Oliver Twist
wollen brauch und – und –« In seiner Wut versagte ihm die Stimme. Leichenblaß vor Aufregung warf er sich in einen Stuhl und kauerte sich zusammen, während plötzlich Furcht und Angst, seine geheimsten Gedanken unvorsichtigerweise offenbart zu haben, sein Gesicht verzerrten. Erst nach einem längeren Schweigen wagte er es, sich nach Nancy umzusehen. Allmählich fand er seine Ruhe und Sicherheit wieder, als er sah, daß sie ihre vorige gleichgültige Stellung wieder eingenommen hatte.
»So hör doch, Nancyleben«, krächzte er in seinem gewöhnlichen Ton. »Haste nicht gehört, was ich gesagt hab?«
»Laß mich in Ruh, Fagin«, antwortete Nancy, träge den Kopf erhebend. »Wenn’s Bill diesmal nicht geglückt ist, wird’s ein andermal schon wieder gehen. Er hat dir schon so manches schöne Geschäft zugebracht und wird’s noch öfter tun, wenn er kann. Wenn er’s nicht kann, dann geht’s eben nicht. Reden wir nicht mehr davon.«
»Nun, und was den Oliver betrifft?« sagte Fagin, sich nervös die Hände reibend. »Der Junge muß eben schauen, wie er durchkommt –.«
»Das müssen andre auch«, fiel ihm Nancy hastig ins Wort. »Aber ich sag dir nochmals, ich hoffe, er ist tot undallem Leid entrückt. Wenn nur dem Bill kein Unglück dadurch widerfährt. Aber wenn Toby sich aus dem Staub gemacht hat, wird’s Bill wohl auch gekonnt haben.«
»Nun, und was meinst du zu dem, was ich sonst noch gesagt hab, Kind?« forschte der Jude, die Dirne nicht aus dem Auge lassend.
»Du mußt mir alles noch einmal wiederholen, wenn du willst, daß ich irgend etwas tun soll«, murmelte Nancy. »Sag mir’s lieber morgen, ich bin so furchtbar müd jetzt.«
Der Jude stellte ihr noch mehrere Kreuz- und Querfragen, um herauszubekommen, ob er nicht zu viel verraten hätte, was er plane. Aber aus ihren schläfrigen Worten und ihrer Gleichgültigkeit entnahm er, was er schon anfangs geglaubt: daß sie von Branntwein betrunken sein müsse.
Diese Entdeckung verschaffte ihm eine große Erleichterung, und er entfernte sich zufrieden damit, einen doppelten Zweck erreicht zu haben, nämlich: Nancy mitzuteilen, was er von Toby erfahren, zweitens sich mit eigenen Augen zu überzeugen, daß Sikes noch nicht zurückgekommen war. Es war elf Uhr nachts und bitter kalt. Er eilte sich, nach Möglichkeit seine Wohnung bald zu erreichen.
Er suchte gerade, an der Ecke der Straße, an der das Haus lag, angelangt, nach dem Hausschlüssel in seiner Tasche, da hörte er plötzlich seinen Namen dicht an seinem Ohr flüstern. Rasch wendete er sich um und fragte: »Ist das –«
»Ja, ich bin’s«, unterbrach ihn die Stimme barsch. »Zwei Stunden wart ich hier schon. Wo zum Teufel steckst du denn?«
»Deinetwegen war ich bei der Arbeit«, erwiderte der Jude, »den ganzen Abend.«
»Natürlich, ja natürlich«, höhnte der andre. »Und was ist dabei herausgekommen?«
»Nix Gütes.«
»Doch nichts Schlimmes vielleicht?« fragte der Fremde erschrocken.
Der Jude schüttelte den Kopf und wollte eben etwas erwidern, aber der andere unterbrach ihn und sagte, sie sprächen wohl am besten unter Dach und Fach; er sei schon förmlich von der Eiseskälte erstarrt.
Dem Juden schien ein solcher Besuch zu so nächtlicher Stunde wenig zu passen, und er stotterte ein paar Ausflüchte wie: kein Feuer im Ofen und dergleichen. Aber der Fremde bestand in so gebieterischem Ton auf seinem Verlangen, daß Fagin endlich die Türe aufsperrte, dann leise wieder hinter sich zuschloß und Licht zu holen versprach.
»Es ist so finster wie im Grab hier«, brummte der Fremde und tastete sich ein paar Schritte vorwärts. »Mach rasch.«
»Schließ die Tür«, flüsterte Fagin unten auf dem Hausflur, und noch während er sprach, fiel das Tor donnernd zu.
»Ich bin’s nicht gewesen«, entschuldigte sich der Fremde und tastete sich vorwärts. »Der Wind hat sie zugeschlagen. Mach geschwind, daß du Licht bekommst, sonst stoß ich mir in diesem vermaledeiten Loch noch den Schädel ein.«
Fagin schlich in die Küche hinunter und kehrte bald darauf mit einer angezündeten Kerze und der Nachricht zurück, Toby Crackit und die Jungen schliefen bereits. Dann führte er seinen Gast in ein Zimmer im oberen Stockwerk.
»Wir können hier ungestört reden«, flüsterte er und schloß die Vorzimmertüre. »Wir stellen am besten die Kerze hier auf den Boden hinaus, denn es sind in den Fensterläden Löcher, und man könnte den Schein draußen sehen.«
Damit bückte er sich und
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