Oliver Twist
stellte die Kerze auf eine Stufe. Dann schritt er seinem Gast voran in das Zimmer, das eraufgesperrt hatte. Außer einem Armsessel und einem Sofa ohne Überzug war nichts von Mobiliar darin zu sehen. Der Fremde setzte sich sichtlich erschöpft nieder, und der Jude rückte sich den Armsessel an sein Sofa, so daß sie dicht nebeneinander saßen. Die Kerze warf von draußen nur einen matten Schein herein.
Eine Zeitlang sprachen sie im Flüsterton, und es schien, daß Fagin sich gegen gewisse Beschuldigungen seines Gastes verteidigte und daß sich dieser in sehr gereizter Stimmung befand. Sie mochten eine Viertelstunde oder so miteinander geflüstert haben, als Monks – mit diesem Namen hatte ihn der Jude des öfteren angeredet – mit etwas lauterer Stimme sagte:
»Und ich wiederhole, es war miserabel ausgeheckt. Warum habt ihr ihn denn nicht hier behalten bei den andern und ihn sofort zum Taschendieb gepreßt?«
»Gott, über die Welt«, rief der Jude und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum.
»Willst du damit vielleicht sagen, daß du’s nicht gekonnt hättest«, fragte Monks unwillig. »Ist’s vielleicht bei den hundert andern Jungen schwerer gegangen? Du hättest ein paar Monate Geduld haben müssen, dann wär’s leicht gewesen. Man hätte ihn fassen und deportieren können auf Lebenszeit.«
»Nu, und wem wär damit gedient gewesen, mei Lieber?« fragte der Jude demütig.
»Mir.«
»Aber mir nicht«, opponierte Fagin. »Wenn zwei Leute zusammenarbeiten, muß doch das Geschäft für beide Teile einträglich sein.«
»Nun, und?«
»Ich hab ihn nicht fürs Geschäft erziehen können. Er war anders geartet als die andern.«
»Hol ihn der Teufel. Wahrscheinlich. Sonst wär er längst ein Dieb geworden.«
»Ich hab ihn nicht in meine Gewalt kriegen können«, erklärte der Jude, ängstlich das Gesicht seines Gastes beobachtend. »Ich hab keine Handhabe gehabt. Womit hätt ich ihn in Schrecken setzen sollen? Das erstemal schon, als ich ihn ausgeschickt hab mit dem Baldowerer und mit Charley, ist er ausgerissen. Ich hab für uns alle gezittert.«
»Meine Schuld war’s nicht«, brummte Monks.
»Nein nein nein, wer sagt denn das auch«, entschuldigte sich Fagin. »Der Zufall war schuld. Und dann: wie hab ich wissen können, daß es gerade der ist, den du suchst. Übrigens haben wir ihn wieder zurückgebracht mit Hilfe von dem Frauenzimmer, – aber was sagt man: jetzt fängt sie an, ihm die Stange zu halten.«
»Erdroßle sie doch!« rief Monks ungeduldig.
»Solche gefährliche Sachen gehen jetzt nix, mei Lieber«, versetzte Fagin lächelnd. »Und dann liegt das nix in meiner Branche, sonst wär’s mir ganz recht, wenn dergleichen öfter geschehen mecht. Aber ich will dir was sagen, Monks, ich kenn das. Wenn der Bub emol anfängt ä Ganef zu werden, kümmert sie sich so wenig um ihn wie um irgend än andern. Du willst, daß er mit aller Gewalt Dieb werden soll. Gut. Wenn er noch am Leben is, werd ich ihn dazu machen, und wenn – wenn – wahrscheinlich ist es freilich nicht –, aber wenn sich das Schlimmste sollte haben ereignet – und er is tot –«
»Wenn er’s ist, mich trifft die Schuld nicht«, unterbrach ihn Monks mit allen Anzeichen des Entsetzens und packte Fagin am Arm, »das merk dir: ich hab meine Hand nicht im Spiel gehabt. Alles, alles, aber seinen Tod will ich nicht. Das hab ich dir vom ersten Augenblick an gesagt. Ich will kein Blut vergießen – so etwas kommt immer heraus, –und dann verfolgt einen das Gewissen. Wenn sie ihn totgeschossen haben, bin ich nicht daran schuld, verstehst du? – Zum Teufel, was ist denn hier los in dieser verdammten Spelunke? Was ist denn das?«
»Was, was denn?« schrie der Jude und umklammerte Monks mit beiden Armen, als dieser plötzlich außer sich vor Entsetzen emporsprang. »Was – wo?«
»Dort«, stöhnte Monks bebend und deutete an die Wand. »Der Schatten – ich habe den Schatten von einem Weibsbild in Mantel und Hut über die Wand hinhuschen sehen.«
Der Jude ließ Monks los, und beide stürzten aus dem Zimmer. Die Kerze, die im Zugwind heftig flackerte und schon fast heruntergebrannt war, stand immer noch auf der Treppenstufe. Entsetzt sahen sich die beiden in ihre totenblassen Gesichter. Sie horchten gespannt. Nichts. Überall tiefstes Schweigen.
»Es muß e Einbildung gewesen sein«, sagte der Jude bebend.
»Schwören könnt ich, daß ich’s wirklich gesehen hab«, versicherte Monks, immer noch heftig zitternd. »Es hat sich
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