Oliver Twist
hatte«, murmelte die Kranke.»Sie brauchte Kleider gegen die Kälte und Nahrung zum Essen und Trinken, aber trotzdem hatte sie’s aufbewahrt und trug’s auf ihrer Brust. Es war Gold – ich sag Ihnen, es war Gold, schweres echtes Gold, mit dem sie sich hätte das Leben retten können.«
»Gold?« wiederholte die Verwalterin und beugte sich gierig über die Sterbende. »Weiter – weiter – ja doch, also wie ist die Sache? Wer war die Person, und wann war es?«
»Sie hat mir’s anvertraut«, erwiderte die Kranke ächzend, »sie hat mir geglaubt, weil ich die einzige Frauensperson war im Zimmer. Ich hab’s ihr schon im Geist gestohlen, als sie’s mir zum erstenmal, als sie’s noch am Hals trug, zeigte, dann starb sie, und – vielleicht hab ich sie auch noch auf dem Gewissen – man hätte sie vielleicht besser behandelt, wenn man alles gewußt hätte.«
»Was gewußt hätte?« fragte die Verwalterin hastig. »So reden Sie doch!«
»Das Kind wurde seiner Mutter so ähnlich«, sagte die Sterbende, die Frage überhörend, »so ähnlich, daß ich’s heut noch vor Augen sehe. Die arme, arme Person! Sie war noch so jung und so sanft und weichmütig. Warten Sie, ich hab Ihnen noch mehr zu sagen. Ich hab noch nicht alles erzählt, oder – wissen Sie schon alles?«
»Nein, nein«, erwiderte Mrs. Cornay gierig und neigte den Kopf vor, um kein Wort zu verlieren. »Geschwind, reden Sie, sonst wird’s zu spät.«
»Dann, wie die Mutter den Tod kommen spürte«, fuhr das Weib keuchend fort, »da hat sie mir ins Ohr geflüstert: – wenn ihr Kind leben bleiben sollte und heranwachsen – dann könnte einmal der Tag kommen – wo es sich nicht so tief geschändet fühlen würde, den Namen seiner armen jungen Mutter zu hören. Ob’s jetzt ein Knabe sein wird oder ein Mädchen, sagte sie, hilf ihm, ich bitte dich,in dieser scheußlichen Welt ein paar Freunde finden, und hab Erbarmen mit dem armen hilflosen Geschöpf.«
»Und wie hieß das Kind?« fragte die Verwalterin.
»Oliver«, antwortete die Sterbende schwach, »und das Gold – war –«
»Ja doch, ja doch, was war es?« Mrs. Cornay beugte sich noch tiefer über das Bett und fuhr dann erschreckt zurück, als die Sterbende sich langsam und steif noch einmal aufrichtete und, ein paar undeutliche Laute tief in der Kehle gurgelnd, tot zurücksank.
»Maustot«, rief das eine der alten Weiber, die wie der Blitz in das Zimmer hineingeschossen kamen, als die Türe geöffnet wurde.
»Nichts, gar nichts hat sie erzählt«, brummte Mrs. Cornay und ging an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten.
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Handelt abermals von Mr. Fagin und Konsorten
Mr. Fagin kauerte brütend an dem rauchigen Feuer in der alten Höhle, aus der Oliver von Nancy weggeholt worden war. Auf den Knien hielt er einen Blasbalg, aber er handhabte ihn nicht – er war zu tief in Gedanken versunken – und hielt das Kinn auf seine Daumen gestützt, die Augen starr auf das rostige Gitter geheftet.
An einem Tisch hinter ihm saßen der Baldowerer, Master Charley Bates und Tom Chitling bei einer Partie Whist, bei der der Baldowerer gegen Master Bates und Mr. Chitling spielte. »Zwei Spiele doppelt und den ›Rubber‹«, murrte Mr. Chitling mit langem Gesicht und langte eine halbe Krone aus der Westentasche. »Gegen dich kann man reinnicht aufkommen, und wenn man noch so gute Karten hat.«
»Schad, daß Sie nicht zugesehen haben, Fagin«, jubelte Charley, »Tommy Chitling hat nicht einen einzigen Point g’habt, und ich hab mit ihm zusammen gegen den Baldowerer und den Strohmann g’spielt.«
»Ja ja, mein Jüngel«, erwiderte der Jude, »da mußt de freilich frieher aufstehen, wenn de willst gewinnen gegen den!«
»Nicht nur früher aufstehen«, knurrte Charley Bates, »die ganze Nacht über mußt de die Stiebel anbehalten und in jedem Auge ’n Brennglas und davor noch ’n Operngucker, wenn de gegen den aufkommen willst.«
Mr. Dawkins nahm das Kompliment mit philosophischer Ruhe entgegen und forderte die Herren der Gesellschaft auf, mit ihm einen Schilling zu wetten, daß er jedesmal eine beliebige Karte aus dem Talon ziehen werde. Da niemand seine Aufforderung annahm und der junge Gentleman mittlerweile seine Pfeife ausgeraucht hatte, ging er daran, mit einem Stück Kreide den Grundriß des Newgater Gefängnisses auf den Tisch zu zeichnen. Dazwischen pfiff er schrill zwischen den Zähnen.
»Verdammt langweilig bist du, Tommy«, sagte er nach längerem Schweigen und
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