Oliver Twist
ohnmächtig wieder nieder.
Verworrene Gedanken durchkreuzten sein Hirn. Er wähnte immer noch, zwischen Sikes und Crackit einherzulaufen, und hörte sie heftig miteinander zanken und aufeinander schimpfen, und immer wiederholten sich dieselben Worte in seinen Ohren. Dann hatte er das Gefühl, als packte dieHand des Räubers wiederum fest sein Gelenk. Abermals hörte er den Schuß und lautes Geschrei. Lichter schimmerten vor seinen Augen, und jähe Visionen jagten einander.
Ohne es zu wissen, war er aufgestanden, die Lattenzäune entlanggetaumelt, durch Öffnungen in Hecken gekrochen und hatte schließlich eine Straße erreicht. Der Regen fing an, so heftig zu fallen, daß seine Wahnvorstellungen nachließen und er endlich zur Besinnung kam.
Er sah sich um. Nicht allzuweit von ihm stand ein Haus, das er möglicherweise erreichen konnte. Vielleicht erbarmten sich dort Menschen seiner und ließen ihn nicht fort, sondern nahmen ihn mitleidig auf. Jedenfalls, überlegte er, würde es ihm leichter werden, in der Nähe menschlicher Wesen zu sterben, als auf einsamem, offenem Feld. Er raffte seine ganze Kraft zusammen und taumelte dem Hause zu.
Wie er näher kam, beschlich ihn eine dunkle Erinnerung, als habe er das Haus schon früher einmal gesehen. Ja, dort stand eine Gartenmauer, dort war er in der vergangenen Nacht in dem hohen Gras auf die Knie gefallen und hatte die beiden Verbrecher um Gnade gebeten. Ja, ja, es war dasselbe Haus, in das sie hatten einbrechen wollen.
Eine solche Furcht überkam Oliver, daß er Augenblicke lang den tödlichen Schmerz seiner Wunde vergaß und nur daran dachte, zu fliehen. Aber wie das anstellen?! Konnte er doch kaum mehr stehen, – und wohin hätte er fliehen sollen? Er hielt sich an dem Gartentor. Es war offen und drehte sich in den Angeln. Oliver taumelte über den Rasenplatz, klomm ein paar Stufen empor, klopfte an die Tür und brach dann von plötzlicher Schwäche übermannt an einer Säule der Vorhalle zusammen.
Inzwischen saßen Mr. Giles und Mr. Brittles mit dem Kesselflicker,sich von den Schrecknissen und Aufregungen der Nacht in der Küche bei einer Tasse Tee erholend, beisammen.
Es war sonst nicht Mr. Giles’ Gewohnheit, der untergeordneten Dienerschaft gegenüber Familiarität an den Tag zu legen – nein, er liebte es vielmehr, stets eine gewisse gütige Leutseligkeit zu zeigen, damit den unter ihm Stehenden das Bewußtsein der sozialen Unterschiede nicht abhanden komme. Allein Todesgefahr, Feuersbrunst und Einbruch sind Dinge, die alle Menschen gleichmachen, und so saß denn Mr. Giles, die Beine auf das Küchenherdgitter gestützt und den linken Arm auf den Tisch gestemmt, imposant da, und sein Publikum – Köchin und Hausmädchen – hörten ihm mit atemloser Spannung zu.
»Es mochte ungefähr halb zwei sein«, sagte Mr. Giles, »ich kann es zwar nicht beschwören, ob es nicht vielleicht dreiviertel war, da wachte ich auf, drehte mich im Bett herum, ungefähr so:« – er drehte sich auf dem Stuhl herum und zog den Zipfel des Tischtuches über die Schultern – »und glaubte ein Geräusch zu hören.«
Die Köchin erblaßte und forderte das Stubenmädchen auf, sofort die Küchentüre zu verschließen. – Das Stubenmädchen gab den Befehl an Mr. Brittles weiter und dieser dem Kesselflicker, der sich seinerseits stellte, als ob er taub sei.
»– glaubte, ein Geräusch zu hören«, wiederholte Mr. Giles. »Erst dachte ich mir: es ist eine Täuschung. Ich wollte mich wieder aufs Ohr legen, als ich abermals das Geräusch von neuem und sehr deutlich vernahm.«
»Was war es denn für eine Art Geräusch?« fragte die Köchin.
»Ein Krach«, erwiderte Mr. Giles.
»Mir schien’s eher so, als wenn einer mit einer eisernenStange über ein Reibeisen gefahren wäre«, fiel Mr. Brittles ein.
»Ja, so war’s damals, als Sie es hörten«, sagte Mr. Giles, »damals aber, als ich es hörte, war’s ein Krach. Ich warf die Bettdecke zurück,« – er warf den Tischtuchzipfel weg – »richtete mich auf und horchte.«
»Allmächtiger«, riefen die Köchin und das Stubenmädchen wie aus einem Munde und rückten dicht aneinander.
»Ich hörte es so deutlich, wie wenn es dicht an meinem Bett gewesen wäre«, fuhr Mr. Giles fort, »und dachte mir: aha, da wird eine Tür oder ein Fenster aufgebrochen. Was tut man jetzt? – Ach was, sagte ich mir, ich werde Brittles wecken, damit der arme Teufel nicht in seinem Bett umgebracht wird.«
Aller Augen hingen an Mr. Brittles, der
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