Oliver Twist
»wenn ich annehmen müßte, daß jemand es gewagt hätte –«
»Nein – nein, niemand hat etwas gewagt.«
»Hätt es auch niemand geraten«, grollte Mr. Bumble und ballte die Faust. »Ich möchte den Kerl sehen, arm oder reich, der sich unterfinge; ein zweites Mal würde er es nicht mehr tun, das kann ich Ihnen versichern.«
Mr. Bumble begleitete seine Worte mit einem höchst kriegerischen Gebärdenspiel, und dieser Beweis seiner Neigung rührte die Gnädige tief. Immer wieder beteuerte sie bewundernd, er sei wirklich und wahrhaftig ein süßer lieber Täuberich.
Der Täuberich aber schlug sich den Rockkragen in die Höhe, setzte seinen Dreispitz auf, tauschte mit seiner künftigen Ehehälfte eine lange zärtliche Umarmung und verließ dann würdevoll das Haus.
Mr. und Mrs. Sowerberry waren zum Abendessen ausgegangen, und da Master Noah Claypole niemals dazu neigte, sich größeren physischen Anstrengungen zu unterwerfen, mit Ausnahme des Essens und des Trinkens, war der Laden noch nicht geschlossen, trotzdem längst Feierabend gemacht war.
Mr. Bumble klopfte mit dem Stock auf den Ladentisch, da jedoch niemand eintrat und er einen hellen Lichtschein durch das Fensterchen des hinter dem Laden gelegenen Wohnzimmers blinzeln sah, nahm er sich die Freiheit, durch die Glasscheibe hineinzuspähen, um sich zu überzeugen, was dahinter vorgehe. Was er dort sah, versetzte ihn in nicht geringes Erstaunen.
Der Tisch war zum Abendessen gedeckt. Butter, Brot, Teller und Gläser, ein Krug Porter und ein Fläschchen Wein standen auf dem Tischchen. Oben als Präsident rekelte sich Master Noah Claypole in einem Lehnstuhl, beide Beine über die Armlehne gestreckt, in der einen Hand ein offenes Klappmesser und in der andern ein mächtiges Butterbrot. An seiner Seite stand Charlotte, neben sich ein Fäßchen Austern, die sie aufbrach, während Master Noah sie mit staunenswerter Geschicklichkeit schlürfte. Eine etwas ungewöhnliche Röte um die Nase herum verriet, zusammengehalten mit einem gläsernen Ausdruck der Augen, daß sich Master Noah in ziemlich angeheitertem Zustand befand.
»Da ist wieder eine famos fette, lieber Noah«, sagte Charlotte. »Probier mal.«
»Famose Sache so ’ne Auster«, brummte Master Claypole, nachdem er sich das Schaltier zu Gemüte gezogen. »Schade, daß man nicht zu viel davon essen kann, da man sonst leicht Bauchweh kriegt, nicht wahr, Charlotte?«
»Es ist eine grausame Einrichtung der Natur«, klagte Charlotte.
»Ja, stimmt«, brummte Master Claypole. »Du ißt Austern wohl nicht sehr gern?«
»Nicht besonders«, versetzte Charlotte. »Ich hab’s viel lieber, wenn ich dich sie essen sehe, lieber Noah.«
»Komm mal her, Charlotte, laß dir einen Kuß geben«, sagte Noah.
»Wie! – was!« rief Mr. Bumble und stürzte ins Zimmer. »Sag das noch einmal, Lausbub!«
»Und Sie da, Sie unverschämte Person! Küssen! Soso: küssen«, fügte Mr. Bumble unwillig hinzu. »Pfui Teufel!«
»Ich hab sie ja gar nicht küssen wollen«, heulte Master Noah. »Sie kommt immer und will’s von mir haben, ob mir’s paßt oder nicht, ist ihr ganz Wurscht.«
»Aber Noah!« rief Charlotte im Tone bittersten Vorwurfs.
»Jawohl, so macht sie’s immer«, heulte Noah. »Ach, Mr. Bumble, gnädiger Herr, und immer kitzelt sie mich unterm Kinn und sucht mich zu verführen.«
»Kusch«, schrie Mr. Bumble streng, »und Sie, scheren Sie sich hinaus, freches Weibsbild. Und du, Noah, mach den Laden zu. Kein Wort jetzt, bis Mr. Sowerberry nach Hause kommt; und dann beichtest du ihm, verstanden? Und dann richtest du ihm aus: ich lasse ihm sagen, er soll morgen früh gleich nach dem Frühstück den Altenweibersarg rüberschicken, verstanden? Solche Bande und küssen!« rief Mr. Bumble in die Hände schlagend. »Die Verderbtheit in den niederen Volksschichten in unserem Kirchspiel nimmt auf schreckliche Weise überhand.« Mit diesen Worten schritt er zur Tür hinaus.
ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Olivers weitere Abenteuer
»Daß euch die Wölfe zerreißen«, knirschte Sikes ingrimmig und legte den verwundeten Knaben über sein Knie.
Lautes Geschrei drang zu ihm herüber, und die durch den Tumult aufgescheuchten Hunde bellten laut in der Umgebung.
»Stehengeblieben, feiger Hund«, schrie Sikes Toby Crakkitt nach, der, was er konnte, reißaus genommen hatte.
Toby, wohl wissend, daß er noch in Schußweite war, blieb sofort stehen, aus Angst, Sikes könne von seiner Pistole Gebrauch machen.
»Hilf mir, den
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