Olivers Versuchung
ihr Versteck gefunden und die Brieftasche herausgenommen hatten.
Was sollte sie dann tun? Alle Mittel, Oliver zu überzeugen, ihr zu vertrauen, wären dann erschöpft. Außer der Möglichkeit, ihm ihr Blut als Beweis anzubieten, hätte sie dann nichts mehr übrig. Und sie würde ihm nicht erlauben, ihr Blut zu trinken, aus Angst, dass er nicht in der Lage wäre, rechtzeitig aufzuhören. Denn diesmal würde keine Wache aufpassen, damit ihr nichts geschah.
Als sie das Gebäude wieder erreichten und aus dem Auto ausstiegen, zitterten ihre Hände unkontrollierbar. Oliver warf ihr einen Seitenblick zu und nahm ihre Hand in seine. Die Wärme seiner Haut beruhigte sie sofort.
„Bleib ruhig“, sagte er leise. „Ich verspreche dir, es ist niemand da drinnen.“
Sie antwortete ihm mit einem zögerlichen Lächeln und hielt seine Hand fest, wohl wissend, dass er der einzige Verbündete war, den sie hatte, obwohl dieser Bund bestenfalls als Notlösung angesehen werden konnte und sich genauso schnell wieder auflösen konnte, wie er gebildet worden war.
Mit vorsichtigen Schritten ging sie neben ihm her. Als sie die Tür zu ihrem ehemaligen Gefängnis erreichten, öffnete Oliver sie und gab Ursula einen leichten Schubs nach innen. Er folgte dicht hinter ihr. Seine Atmung war das einzige, was sie hören konnte.
Ihre Hand suchte seine in der Finsternis, und Ursula war froh, dass er ihre Berührung nicht zurückwies.
„Ich kann nichts sehen“, flüsterte sie.
„Ich will hier das Licht nicht einschalten, wo es von der Straße aus gesehen werden könnte. Ich kann uns durch die Dunkelheit führen, wenn du mir sagst, wo du hin willst.“
„In den dritten Stock.“
Als er sie die Treppe hinaufführte, versuchte sie die Schauer auszublenden, die ihr bei dem Gedanken daran, was in diesem Gebäude geschehen war, über den Rücken liefen. Sie war überrascht, als sie Olivers Hand in einer beruhigenden Berührung über ihren Arm streicheln spürte.
„Danke“, murmelte sie.
„Wir sind schon fast da.“
Als sie die oberste Etage erreichten, hörte sie, wie Oliver einen Lichtschalter betätigte. Einen Augenblick später gingen die schwachen Lichter im Flur an und halfen ihr, sich zurechtzufinden. Sofort blickte sie ihn an.
„Ist es sicher, hier das Licht anzumachen?“
Er nickte. „Es gibt nur zwei Fenster auf diesem Flur und beide sind schwarz übermalt.“
Erleichtert zeigte Ursula zum anderen Ende des Korridors. „Dort ist die Feuerleiter, die ich benutzt habe.“ Dann drehte sie sich in die andere Richtung. „Das Zimmer ist dort.“
Ihr Tempo verlangsamte sich, während sie an den vielen Türen vorbeiging, die zu den Zimmern der anderen Mädchen führten. Oft hatte sie heftiges Schluchzen aus diesen Räumen kommen hören. Aber heute Abend lag Stille über der gesamten Etage. Obwohl sie langsam ging, gelangte sie schließlich doch zur Tür ihrer ehemaligen Gefängniszelle. Sie legte ihre Hand auf den Türknauf, fand aber nicht die Kraft, die Tür zu öffnen.
Wie angewurzelt verharrte sie regungslos und schloss die Augen.
„Wir machen es gemeinsam“, murmelte Oliver hinter ihr und legte seine Hand auf ihre. Dann drehte er den Türknauf.
Als die Tür sich nach innen öffnete, machte sie einen zögerlichen Schritt nach vorne und tastete nach dem Lichtschalter. Sie betätigte ihn, und ihre Augen überflogen den kleinen Raum. Er war leer, genau wie der Rest des Hauses. Wie viele Stunden hatte sie hier verbracht und gehofft und gebetet, gerettet zu werden?
„Hier war ein Bett. Sie haben mich tagsüber gefesselt, damit ich mich nicht bewegen konnte.“ Sie deutete auf eine Ecke, wo ein Holzbalken freigelegt war. Die untere Hälfte davon war von dem Kopfteil ihres Bettes versteckt gewesen, aber jetzt war sie sichtbar.
Sie ging zu dem Balken und hörte Olivers Schritte hinter sich, als er ihr folgte. Dann sank sie zu Boden und ließ ihre Finger über die Buchstaben gleiten, die sie in die Oberfläche des Balkens geritzt hatte. „Mein Name, die Adresse meiner Eltern. Damit ihnen jemand würde sagen können, dass ich hier war.“
Sie drehte sich zu Oliver um und bemerkte, wie er auf die Stelle starrte, wo ihre Finger hinzeigten. Dann fuhr auch er mit der Hand über die Oberfläche des Holzes. Ihre Blicke trafen sich.
„Es tut mir so leid.“ Wenn sie nicht gesehen hätte, wie sich seine Lippen bewegten, hätte sie seine geflüsterten Worte beinahe nicht gehört.
Überrascht von der Zärtlichkeit in seinem Blick,
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