Oliviane – Der Saphir der Göttin
Sturz in den Schlamm der Straße. Ihre Glieder waren vor Kälte fast abgestorben, und die mitleiderregende Blässe ihres Gesichtes verriet überdeutlich, dass sie am Ende ihrer Kraft war.
»Kümmert euch um sie!«, befahl die fremdartige Stimme, und Oliviane wurde von starken Armen in den Karren gehoben, wo sich Frauen und Kinder bereits eng aneinander drängten. Die alte Frau, neben der sie Platz fand, hatte offensichtlich die Befehlsgewalt über die ärmliche bunte Truppe.
Oliviane sackte neben ihr zusammen. Sie spürte es kaum, als jemand eine Decke um ihre Schultern legte, die intensiv nach Heu und Ziegenstall roch. Oliviane begann zu zittern, ihre Zähne klapperten aufeinander, und im Rhythmus ihres Herzens dröhnte es in ihr in dumpfer Verzweiflung: Mörderin! Mörderin!
Inzwischen hatten die Männer draußen das Pferd an die Deichsel des ersten Wagens geschirrt und den Kadaver des Maultieres zerteilt. Es war alt und zäh, aber es war Fleisch für ihre Kochtöpfe. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, doch Oliviane hörte nicht einmal den erleichterten Seufzer, mit dem die Frauen diese Tatsache zur Kenntnis nahmen.
Irgendwo zwischen Wachen und Träumen sah sie unentwegt das bärtige Gesicht des Schwarzen Landry vor sich, ein Antlitz mit geschlossenen Augen, über dessen Schläfe rotes Blut rann. Sie hatte ihn getötet! Aber sie hatte nicht nur ihn getötet – mit dem gleichen Hieb hatte sie auch das eigene Herz zerschlagen. Es war die Strafe des Himmels, dass sie erst jetzt begriff, wie tief sie ihm verbunden war ...
»Was ist es, das dich so düster und schwermütig macht? Meine Mutter sagt, du hast nicht gegessen und sprichst kein Wort mit den Frauen?«
Oliviane sah in das braune Gesicht des Anführers, von dem sie jetzt wusste, dass man ihn Juan nannte und dass er der Sohn der alten Frau war, die mit scharfer Zunge und Argusaugen über die Weiber und Kinder der Gruppe herrschte. Sie waren Gaukler, ein elender Haufen hungriger Abenteurer, Artisten, Wahrsagerinnen und Landstreicher, die von Markt zu Markt und von Fest zu Fest zogen, um leben zu können.
»Du bist schön, und du bist traurig.« Juans rauer Akzent verlieh seinen Worten besondere Eindringlichkeit. Er berührte den dicken goldenen Zopf, der Olivianes Haare bändigte, und seine Fingerkuppen glitten über die schmalen Wangen ihres blassen Gesichts. »Was ist geschehen, dass das Leben allen Glanz für dich verloren hat? Willst du uns nicht endlich deinen Namen verraten?«
»O ... Odile ...«, wisperte sie so zögernd, dass sie sich sofort verriet. Aber sie brachte ihren wirklichen Namen nicht mehr über die Lippen. Oliviane war am Lager des Schwarzen Landry für immer gestorben.
Der Mann unterdrückte ein Lächeln. Er wusste noch nicht genau, was er von ihr halten sollte. Noch respektierte er, dass ihr Pferd ihnen aus einer ausweglosen Lage geholfen hatte. Doch die Tatsache, dass er beim Durchsuchen ihres Mantelsacks nur Männerkleider und einen Beutel Silbermünzen entdeckt hatte, gab ihm zu denken. Sie sah nicht wie eine Diebin aus, aber alles sprach dafür, dass sie eine war. Wen jedoch hatte sie bestohlen? Wurde sie gesucht? Brachte sie ihn und die anderen Gaukler durch ihre Gegenwart in Gefahr?
»Nun, Odile, wohin führt dich deine Reise?«, wagte er eine weitere Frage. »Du trägst vornehme Kleider, und dein Pferd, das unseren Karren zieht, ist wohl genährt und stark. Es ist das Pferd eines Kriegers, nicht das eines Mädchens ...«
Oliviane errötete und senkte den Kopf, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Sie hatte gewusst, dass die Fragen kommen würden.
»Ich habe mir das Pferd nur ausgeliehen, um nach Rennes zu reiten«, murmelte sie, unfähig sich eine andere, glaubhaftere Geschichte auszudenken.
»Diese Stadt ist auch unser Ziel«, erklärte Juan. »Man sagt, am Hofe des Herzogs der Bretagne hätten Gaukler und Artisten ein gutes Auskommen. Aber wem wirst du dein Pferd zurückgeben, wenn wir dort sind?«
Oliviane schwieg bedrückt.
»Bist du deiner Familie weggelaufen?«, forschte Juan weiter.
»Ich habe keine Familie mehr«, gestand sie müde. »Ich bin allein. Es gibt keine Menschenseele, die mein Schicksal kümmert ...«
»Dann bleib bei uns, solange es dir gefällt«, bot Juan scheinbar wohlwollend an. Oliviane konnte nicht ahnen, dass er im Stillen an den Beutel Silbermünzen und das Pferd dachte, die so auf höchst problemlose Weise in seinen Besitz übergingen. Er verabscheute Gewalt, auch wenn er sie von Fall
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