Oliviane – Der Saphir der Göttin
sank.
»Heißer Zwiebelsaft! Er wirkt Wunder bei einem so hässlichen Husten, wie Ihr ihn habt«, hörte sie eine sachliche Frauenstimme. »Haltet Euch ruhig, Kind! Ihr habt eine Beule von der Größe eines stattlichen Hühnereis an Eurer Stirn. Ich nehme an, dass Euer armer Kopf höllisch schmerzt, sobald Ihr auch nur eine Bewegung tut.«
Oliviane öffnete mit größter Anstrengung die Lider. Sie blickte direkt in ein breites Frauengesicht mit ruhigen grauen Augen. Das feine Netz von Fältchen in den Augenwinkeln, die tief gefurchte Stirn und der gelbliche Pergament-Teint verrieten, dass die Frau die Mitte des Lebens längst hinter sich gelassen hatte.
Die gestärkte Kegelhaube aus feinster Spitze über den grauen Haaren und das Kleid aus dunkelblauem flandrischem Tuch verrieten, dass ihre Besitzerin in besten, wenn nicht gar luxuriösen Verhältnissen lebte.
»Wo bin ich?«, flüsterte Oliviane und versuchte, den süßlich widerlichen Zwiebelgeschmack in ihrem Mund durch Schlucken zu vertreiben. »Da war ein Stein, über den ich gestolpert bin, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, ob es mir Leid tun soll, dass Ihr es getan habt!«, entgegnete die Frau offen. »Ich denke, Ihr seid bei mir sogar mit dieser prächtigen Beule besser aufgehoben als bei Maître Crépin!«
»War das dieser grässliche Kerl mit den gelben Wolfsaugen?«
»In der Tat. Und ich bin Dame Magali de Silvestre. Der Prellstein, der Euch aufgehalten hat, gehört zu meiner Haustür.«
»Es tut mir Leid, ich ...« Oliviane wollte sich aufrichten, sank aber mit einem heiseren Schmerzenslaut wieder zurück. Ihr Kopf drohte zu zerplatzen.
»Sagte ich nicht, dass Ihr liegen bleiben solltet?« Dame Magali wrang inzwischen ein sauberes Leinentuch in einer Zinnschüssel aus und legte Oliviane das ordentlich zusammengefaltete, kühle Tuch auf die schmerzende Stirn.
»Ich danke Euch sehr. Aber ich kann nicht bleiben, ich ...«
»Ihr werdet es wohl müssen, Kind. Das Mädchen, das Euch in diese Zwickmühle manövriert hat, ist längst davongelaufen!«
Dame Magali besaß die scharfen Augen eines Adlers, und sie war, in Begleitung ihrer Köchin, eben mit vollen Körben vom Markt gekommen, als sich das Drama auf den Stufen ihres Hauses abgespielt hatte.
Und sie hatte lange genug in dieser Stadt gelebt, um sich ein Urteil darüber erlauben zu können. Alles an dieser bezaubernden Fremden deutete auf eine Herkunft hin, die weit über der eines Straßenmädchens lag. Weshalb also trug diese prachtvolle junge Frau die zerschlissenen Kleider einer Dirne und setzte sich den Händen eines Scheusals wie Crépin aus?
Dame Magalis Interesse war in höchstem Maße geweckt.
Trotzdem zähmte sie für den Augenblick ihre Wissbegierde. Sie hatte den Eindruck, dass es ihrem schönen Gast im Moment mehr helfen würde, wenn man ihn ein wenig in Ruhe ließ. Wenn die Erschöpfung, die Erkältung und die Kopfverletzung keinen Schaden anrichten sollten, dann musste das Kind erst einmal wieder gesund werden.
»Ruht Euch aus, meine Liebe! Ich biete Euch die Gastfreundschaft dieses Hauses an, bis Ihr es wieder verlassen wollt. Ihr werdet sehen, es hat einigen Komfort. Seine Gnaden, der Herzog, hat es mir für meine Dienste überschrieben. Ich war seine Amme, und manchmal erweist er mir die Ehre, sich dieser Tatsache auch heute noch zu erinnern. Er ist ein gütiger und gerechter Herzog, und wir können dem Herrn dankbar sein, dass er am Ende den großen Sieg über seine Feinde davongetragen hat.«
Oliviane runzelte die Stirn. Dame Magali strömte eine mütterliche Wärme aus, die einen in Versuchung führte, sich in ihre Arme zu begeben und ihr alles Weitere zu überlassen.
Olivianes Augen fielen wie von selbst zu.
Sie zweifelte nicht daran, dass Fanny, Juan und die anderen Rennes inzwischen verlassen hatten. Natürlich mit dem Geld, das sie für ihr Pferd bekommen hatten, mit ihrem Mantelsack und allem, was sie besessen hatte. Ihr gehörte nichts mehr. Sogar das züchtige Nachthemd mit den langen Ärmeln, das sie trug, stammte vermutlich aus Dame Magalis umfangreichem Besitz. Alles war fort. Auch der Stern von Armor.
Sie empfand weder Empörung noch Trauer darüber. Die wenigen Tage, die sie in der Gesellschaft der Gaukler verbracht hatte, hatten ihr unbarmherzig klargemacht, dass es eine Armut gab, von der sie bisher trotz allem keine Ahnung gehabt hatte. Ein Mantelsack voller Kleider, ein Pferd und ein Frauengewand bildeten für diese armen Teufel bereits den Gipfel
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