Olympos
lange, mein Freund.
Menelaos hielt am Fuß der Treppe inne und zog das Schwert aus der Scheide. Niemand bemerkte es. Aller Augen waren auf den lodernden, knisternden Scheiterhaufen zehn Meter vor ihnen g e richtet. Hunderte von Soldaten hatten die Schwerthand erhoben, um Augen und Gesicht von der Hitze der Flammen zu schützen.
Menelaos setzte den Fuß auf die erste Stufe.
Eine Frau – eine der verschleierten Jungfrauen, die zuvor das Öl und den Honig zum Scheiterhaufen gebracht hatten – kam keine zehn Fuß von Menelaos entfernt aus dem Portikus des Zeuste m pels und ging geradewegs auf die Flammen zu. Alle Gesichter drehten sich zu ihr, und Menelaos musste auf der untersten Stufe reglos stehen bleiben und das Schwert senken, da er fast direkt hinter ihr stand und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte.
Die Frau warf ihren Schleier weg. Die Trojaner auf der and e ren Seite des Scheiterhaufens sogen hörbar die Luft ein.
»Oinone«, rief eine Frau von der Tribüne über ihnen.
Menelaos reckte den Hals und schaute nach oben. Priamos, H e lena, Andromache und einige andere waren wieder auf die Trib ü ne herausgetreten, als sie die erstaunten Laute der Menge hörten. Die Ruferin war nicht Helena gewesen, sondern eine der Sklavi n nen, die sie begleiteten.
Oinone? Der Name klang Menelaos vage vertraut – aus der Zeit vor diesem Jahrzehnt des Krieges –, aber er kam nicht darauf, woher. Er war mit den Gedanken bei der nächsten halben Minute. Helena befand sich am oberen Ende dieser fünfzehn Stufen, und es war niemand da, der sich zwischen sie stellen konnte.
»Ich bin Oinone, Paris ’ wahre Gemahlin!«, rief die Frau, deren Stimme selbst auf so kurze Distanz fast im Brausen des Windes und dem wilden Knistern des Leichenfeuers unterging.
Paris ’ wahre Gemahlin? Menelaos war so verdutzt, dass er zöge r te. Weitere Trojaner drängten aus dem Tempel und den angre n zenden Gassen, um dieses Schauspiel mit anzusehen. Me h rere Männer traten auf die Stufen neben und über Menelaos. Jetzt fiel dem rothaarigen Argeier wieder ein, dass man sich nach dem Raub Helenas in Sparta erzählt hatte, Paris sei mit einer unschei n baren, zehn Jahre älteren Frau verheiratet gewesen, die er verla s sen habe, als die Götter ihm halfen, Helena zu entführen. Oinone.
»Phöbus Apollo hat Priamos ’ Sohn Paris nicht getötet«, rief diese Oinone. »Ich war es!«
Aus der Menge erschollen Rufe und sogar obszöne Bemerku n gen, und einige der trojanischen Krieger neben dem bre n nenden Scheiterhaufen traten vor, als wollten sie diese Verrückte ergre i fen, aber ihre Kameraden hielten sie zurück. Die Meh r heit wollte hören, was das Weib zu sagen hatte.
Menelaos sah Hektor durch die Flammen. Nicht einmal Il i ums größter Held konnte hier eingreifen, denn das Leichenfe u er seines Bruders loderte zwischen ihm und dieser Frau mittl e ren Alters.
Oinone war so nah an den Flammen, dass ihre Kleider damp f ten. Sie sah nass aus, als hätte sie sich zur Vorbereitung auf di e sen Auftritt mit Wasser übergossen. Ihre vollen, schweren Brüste zeichneten sich unter dem triefnassen Gewand deutlich ab.
»Paris ist nicht im Feuer von Phöbus Apollos Hand gesto r ben!«, schrie die Harpye. »Als mein Gemahl und der Gott vor zehn T a gen in die Langsame Zeit verschwanden, schossen sie mit Pfeil und Bogen aufeinander – es war ein Bogenschützen-Duell, wie Paris es geplant hatte. Beide, Mensch und Gott, ve r fehlten ihr Ziel. Ein Sterblicher – der Feigling Philoktet – schoss den tödlichen Pfeil ab, der meinem Gatten zum Verderben wurde!« Oinone zei g te auf die Gruppe der Achäer, wo der alte Philoktetes neben dem großen Ajax stand.
»Lügen!«, schrie der betagte Bogenschütze, den Odysseus erst kürzlich, Monate nach dem Beginn des Krieges gegen die Gö t ter, von seiner Insel des Exils und der Krankheit gerettet hatte.
Oinone ignorierte ihn und trat noch näher an die Flammen he r an. Die Haut ihrer bloßen Arme und ihres Gesichts rötete sich in der Hitze. Der Dampf, der ihren Kleidern entströmte, legte sich wie dichter Nebel um sie. »Als Apollo enttäuscht zum Olymp z u rückkehrte, schoss der argeiische Feigling Philoktetes meinem Gatten, gegen den er einen alten Groll hegte, seinen giftigen Pfeil in den Unterleib!«
»Woher willst du das wissen, Frau? Niemand von uns ist Apollo und dem Sohn des Priamos in die Langsame Zeit g e folgt. Keiner von uns war bei dem Kampf dabei!«, brüllte Achilles, dessen
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