Olympos
während es auf der langen, starken Dünung hereintrieb. Agamemnon b e schirmte die Augen, als würde die Nachmittagssonne ihm Schmerzen bereiten, und rief zurück: »Fort, Bruder. Sie sind alle fort!«
5
Das Leichenfeue r wird die ganze Nacht brennen.
Thomas Hockenberry, Bakkalaureat in Anglistik am Wabash College, Magister und Doktor der Altphilologie in Yale, eins t mals Mitglied des Lehrkörpers der Indiana University – in Wahrheit Leiter des dortigen altphilologischen Seminars bis zu seinem Krebstod im Jahr 2006 – und in jüngerer Vergangenheit, für neun Jahre der neun Jahre und acht Monate seit seiner Wiederauferst e hung, homerischer Scholiker der olympischen Götter, zu dessen Pflichten es in dieser Zeit gehörte, seiner Muse n a mens Melete täglich und mündlich Bericht über die Entwicklung des trojan i schen Krieges und dessen Treue zu oder Abweichung von H o mers Ilias zu erstatten – wie sich herausg e stellt hat, können die Götter so wenig lesen und schreiben wie Dre i jährige –, verlässt den Marktplatz mit Paris ’ loderndem Scheiterhaufen kurz vor Einbruch der Dunkelheit und steigt auf den zwei t höchsten Turm Trojas, so beschädigt und gefährlich dieser auch ist, um in aller Ruhe sein Brot und seinen Käse zu essen und seinen Wein zu trinken. Für Hockenberry war es ein langer, merkwü r diger Tag.
Dieser Turm, den er häufig wählt, wenn er allein sein möchte, steht näher am skäischen Tor als am Stadtzentrum bei Priamos’ Palast, aber nicht an der Hauptstraße, und die meisten Lagerrä u me im unteren Bereich sind derzeit leer. Offiziell ist der Turm – einer der höchsten in Ilium vor dem Krieg, nach den Maßstäben des zwanzigsten Jahrhunderts fast vierzehn Stockwerke hoch, g e formt wie ein Mohnstängel oder ein Minarett mit einer zwiebe l förmigen Verdickung im obersten Bereich – für die Öffentlichkeit gesperrt. In den ersten Wochen des g e genwärtigen Krieges hat eine Bombe der Götter die obersten drei Stockwerke wegg e sprengt und die Zwiebel diagonal au f gerissen, sodass die kleinen Räume ganz oben keine Decken und Außenwände mehr haben. Der Hauptschacht des Turms weist alarmierende Risse auf, und die schmale Wendeltreppe ist von Mauerwerk, Putzbrocken und heruntergefallenen Ste i nen übersät. Vor zwei Monaten, bei seinem ersten Aufstieg auf den Turm, hat Hockenberry Stunden g e braucht, um den Weg zur Zwiebel im elften Stock freizuräumen. Auf Hektors Anweisung haben die Moravecs orangefarbenes Plastikband mit a n schaulichen Piktogrammen über die Eingänge geklebt, um die Leute vor etwaigen Folgen unbefugten Betretens zu warnen – den beängstigendsten Bildern zufolge kann der ga n ze Turm jederzeit einstürzen –, und andere Symbole befehlen ihnen bei Strafe von König Priamos’ Zorn, draußen zu bleiben.
Anschließend haben die Plünderer den Turm binnen zweiun d siebzig Stunden ausgeräumt, und danach hielten sich die Stad t bewohner wirklich von ihm fern – welchen Nutzen hatte schlie ß lich ein leeres Bauwerk? Nun schlüpft Hockenberry zw i schen den Bändern durch, knipst seine Taschenlampe an und beginnt mit dem langen Aufstieg, ohne sich große Sorgen zu machen, dass er hier festgenommen, ausgeraubt oder gestört werden könnte. Er ist mit Messer und Kurzschwert bewaffnet. Außerdem ist er weithin bekannt: Thomas Hockenberry, Sohn des Duane, gelegentlich Freund … nein, nicht Freund, aber zumindest Gesprächspar t ner … sowohl von Achilles als auch von Hektor, darüber hinaus eine Person des öffentlichen Lebens, mehr als flüchtig mit den M o ravecs und Steinvecs bekannt … deshalb würden es sich die mei s ten Griechen oder Trojaner g a rantiert zweimal überlegen, bevor sie sich an ihm vergreifen.
Aber die Götter … nun ja, das ist etwas anderes.
Im dritten Stock schnauft Hockenberry bereits, im zehnten keucht er heftig und macht eine Pause, um Atem zu schöpfen, und als er das zerstörte elfte Stockwerk erreicht, gibt er Gerä u sche von sich wie der 1947er Packard, den sein Vater einmal besessen hat. Über neun Jahre lang hat er diese menschlichen Halbgötter – Griechen wie Trojaner – beim Kämpfen, Tafeln, Lieben und Org i enfeiern beobachtet, als wären sie einem wirkungsvollen Werb e spot für den erfolgreichsten Fitnessclub der Welt entsprungen, ganz zu schweigen von den Göttinnen und Göttern, die wandel n de Reklame für den besten Fitnessclub im ganzen Universum sind, aber Doktor Thomas Hockenberry hat nie
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