Olympos
Zeit gefunden, sich selbst in Form zu bringen. Typisch, denkt er.
Die Treppe windet sich im Zentrum des kreisrunden Ba u werks in engen Spiralen nach oben. Es gibt keine Türen, und durch Fen s ter in den winzigen, tortenstückförmigen Räumen zu allen Seiten fällt etwas Abendlicht in den zentralen Tre p penschacht, aber er steigt trotzdem im Dunkeln nach oben. Er ve r gewissert sich mit Hilfe der Taschenlampe, dass die Stufen dort sind, wo sie sein so l len, und dass kein neuer Schutt in den Treppenschacht gefallen ist. Wenigstens sind die Wände frei von Graffiti – eine der vielen Segnungen einer vollkommen analphabetischen Bevölkerung, denkt Professor Thomas Hocke n berry.
Als er seine kleine Nische im jetzigen obersten Stockwerk e r reicht – die Trümmer und den schlimmsten Gipsstaub hat er längst weggeräumt, aber die Räume sind dem Regen und dem Wind ausgesetzt –, findet er wie immer, dass sich der mühevo l le Aufstieg gelohnt hat.
Hockenberry setzt sich auf seinen Lieblingssteinblock, stellt se i nen Rucksack ab, legt die Taschenlampe weg, die er sich vor M o naten von einem der Moravecs geliehen hat, und holt sein kleines Päckchen mit frischem Brot und muffigem Käse sowie den Wei n schlauch hervor. Er spürt, wie die Abendbrise vom Meer durch seinen neuen Bart und die langen Haare fährt, schneidet mit se i nem Kampfmesser müßig Käsestücke und Brotscheiben ab und lässt den Blick über die Szenerie schwe i fen, bis die Anspannung des Tages allmählich von ihm abfällt.
Die Aussicht ist grandios. Sie erstreckt sich über beinahe dre i hundert Grad – nur ein stehen gebliebenes Mauerstück hinter ihm verwehrt ihm vollständige Rundumsicht – und gewährt ihm freien Blick auf den größten Teil der Stadt – Paris ’ Sche i terhaufen ist nur ein paar Blocks weiter östlich und scheint aus dieser Höhe direkt unter ihm zu sein – sowie auf die Stadtma u ern ringsum, auf denen gerade die Fackeln und Lagerfeuer angezündet we r den, und das Achäerlager, das sich im Norden und Süden kilom e terweit an der Küste entlangzieht. Die Lichter der aberhundert Kochfeuer rufen bei Hockenberry Erinneru n gen an den Blick aus einem Flugzeug wach, das nach Einbruch der Dunkelheit über dem Lake Shore Drive in Chicago heru n terging; der Uferstrich des Sees war mit einer Halskette aus sich bewegenden Scheinwerfe r lichtern und zahllosen erleuchteten Wohngebäuden geschmückt. Auf dem weindunklen Meer je n seits des Lagers zeichnen sich – eben noch sichtbar – die rund fünfzig schwarzen Schiffe ab, mit denen Agamemnon soeben zurückgekehrt ist. Die meisten sind noch nicht auf den Strand gezogen worden, sondern liegen noch schaukelnd vor Anker. In Agamemnons Lager, das in den letzten anderthalb Monaten so gut wie leer war, herrscht an diesem Abend hektischer B e trieb, und überall brennen Feuer.
Hier ist der Himmel nicht leer. Im Nordosten schneidet das let z te der Raumverzerrungslöcher, der Wurmlöcher oder was immer sie sind – die Leute haben das verbliebene in den letzten sechs Monaten einfach »das Loch« genannt –, eine Scheibe aus dem tr o janischen Himmel. Es verbindet die Ebene von Ilium mit dem Marsmeer. Braune Kleinasienerde geht direkt in roten Marsstaub über, ohne dass sie auch nur ein Spalt im Boden trennen würde. Auf dem Mars ist es noch etwas früher am Abend; dort hält sich noch ein rotes Zwielicht, das die Konturen des Lochs vom dunkl e ren Himmel der alten Erde abhebt.
Rote und grüne Navigationslichter blinken an einem Dutzend Moravec-Hornissen, die über dem Loch und der Stadt Nachtpa t rouille fliegen; sie ziehen Kreise über dem Meer und streifen bis zu den nur undeutlich sichtbaren Schatten der bewaldeten Gipfel des Ida-Gebirges im Osten.
Obwohl die Sonne gerade untergegangen ist – früh in dieser Winternacht –, herrscht in den Straßen von Troja noch reges Tre i ben. Die letzten Händler auf dem Marktplatz bei Priamos ’ Palast haben ihre Planen zusammengefaltet und schaffen ihre Waren in Karren fort – selbst in dieser Höhe hört Hockenberry die knarre n den Holzräder, die lauter sind als der Wind –, aber die angre n zenden Straßen, in denen es von Bordellen, Restaurants, Badehä u sern und weiteren Bordellen nur so wimmelt, erwachen zum L e ben und füllen sich mit drängelnden Gesta l ten und flackernden Fackeln. Wie es trojanischer Brauch ist, wird jede große Straße n kreuzung in der Stadt, ebenso wie jede Biegung und jeder Winkel der
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