Oma dreht auf
Gegenteil, sie war berüchtigt für ihre engen Jeans und die viel zu knappen T-Shirts in den schrillsten Farben. Außerdem war sie in Herbst und Winter Dauergast im Sonnenstudio, ihre Haut war immer lederbraun gebrannt. Insofern war es ein Albtraum, in der ausgeleierten Jogginghose von Herrn Bösinger und einem christlichen T-Shirt für die Ewigkeit auf digitalen Datenträgern festgehalten zu werden.
«Dürfte ich bitte telefonieren?», fragte Imke nun.
Das Grundrecht jedes Inhaftierten.
«Aber natürlich, liebe Frau Riewerts, Ihre Kommunarden machen sich sicher längst Gedanken, wo Sie stecken.»
Aber Imke hatte nicht vor, ihre WG anzurufen. Um Gottes willen, Ocke und Christa durften das hier nie erfahren! Dann würde Christa sie keine Sekunde mehr aus den Augen lassen, und das wäre ihrer Freundschaft nicht zuträglich. Womöglich würde sie sogar ihre Geburtstagsfete absagen, und das wollte sie auf gar keinen Fall riskieren. Es gab nur einen, der sie retten konnte, und dessen Nummer hatte sie zum Glück im Kopf.
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6. Omas Lieblingsretter
Sönkes schwanenweißes Boot wartete in einer einsamen, sandigen Bucht vor den Dünen an der Nordspitze, die sich an dieser Stelle des Strandes hoch auftürmten. Er war nach dem panischen Anruf seiner Oma sofort losgefahren.
Sie hatten so einiges zusammen erlebt, hatten abenteuerliche Reisen in alle Welt unternommen, waren in Hamburger Musik-Clubs gestrandet, und eigentlich hatte er damit gerechnet, dass seine Oma auf ihre ganz alten Tage etwas ruhiger wurde. Aber da hatte er sich wohl getäuscht. Jetzt war es allerdings mehr Tüdeligkeit als Abenteuerlust, die seine Oma in derartige Situationen brachte.
Er schob das Boot in die unruhige Nordsee, sodass es gerade genug Wasser unter dem Boden hatte. Dann half er seiner Oma hinein, was gar nicht so einfach war, denn das leichte Boot kippelte bedenklich hin und her. Oma setzte sich nach vorne auf die Bank, und Sönke startete mit einer Schnur den Außenborder, der sofort ansprang. Die Abgase des Zweitakters mischten sich mit dem salzigen, kühlen Nordseewasser.
Über den Aufzug seiner Oma amüsierte er sich insgeheim: Imke war mit Abstand die eitelste Frau Nordfrieslands (und angrenzender Gebiete), freiwillig hätte sie nie eine ausgeleierte graue Jogginghose und ein T-Shirt mit Fischmotiv angezogen. Das bedeutete für sie die Höchststrafe.
«Es war Wahnsinn, allein durchs Watt zu gehen», rief ihr Sönke gegen den Wind zu, als sie langsam Richtung Föhr lostuckerten.
Oma warf verächtlich den Kopf in den Nacken. «Ich bin es gewohnt, weißt du doch.»
Früher war es ihr wöchentlicher Weg von Föhr zu ihrem Geliebten Johannes gewesen. Aber inzwischen war sie viel zu schwach für eine solche Strecke.
«Und weswegen legst du dich zu wildfremden Leuten ins Bett?»
«Mooment, die Bösingers sind nicht wildfremd! Wir kennen uns von früher, wenn auch nur flüchtig. Deswegen habe ich sie auch zu meiner Geburtstagsfeier eingeladen.»
Das war schlecht gelogen.
«Oma, ich bin nicht blöd.»
«Ist ja gut», lenkte Imke ein. «Aber das mit der Geburtstagsfeier stimmt wirklich. Und sie haben zugesagt.» Verlegen sah sie auf ihre grünen Fußnägel.
«Was war denn das Peinlichste, was
du
je erlebt hast?», fragte sie nach einer Pause.
Sönke überlegte eine Weile, bis es ihm wieder einfiel:
«Lieber nicht.»
«Siehste!»
Damit war das Thema erledigt, und sie schauten schweigend übers Wasser Richtung Föhr. Das heißt, Sönke machte sich schon Sorgen, denn bei dieser Aktion hätte sonst was passieren können. Christa hätte besser auf Oma aufpassen müssen, das war ja wohl klar!
Die Insel Föhr zeigte in der warmen Abendsonne noch einmal alles, was sie zu bieten hatte. Die Deiche leuchteten in einem warmen, satten Grün, das an einigen Stellen von ockergelben Stränden unterbrochen wurde. Der Kirchturm von Nieblum zeigte starr in den blauen Himmel. Über der Godelniederung schwebte ein riesiger dunkler Vogelschwarm auf und nieder, was wie eine gigantische Tanzvorführung wirkte. Sönke hatte es nie bereut, vor zwei Jahren hierher gezogen zu sein, sein früheres Leben in Hamburg erschien ihm so weit weg wie ein anderer Planet. Was natürlich auch an Maria lag, die er letztes Jahr geheiratet hatte. Maria war seine Kusine, sein Onkel Arne hatte sie adoptiert, und früher, wenn Sönke mit seinen Eltern auf Föhr zu Besuch war, hatten sie zusammen im Sand gespielt.
Er musste zugeben, sie war immer noch
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