Oma dreht auf
Instrument in der Hand fühlte Ocke sich sicher, vor allem jetzt, da Christa – immer noch ohne Begleitung – mit einem Glas in der Hand im Publikum stand und ihn wohlwollend anlächelte. Obwohl Arnes Lieder hierzu nicht gerade geeignet waren, zogen sich Carla und Tamara die Korksandalen aus und begannen, barfuß zu tanzen. Der Mann mit dem Mondgesicht sprang wie eine Flipperkugel zwischen den beiden hin und her. Nach einer Weile warf er sein hellgraues Anzugjackett lässig auf den Rasen, darunter trug er ein blau-weiß geringeltes T-Shirt, das seinen runden Bauch noch betonte – mutig! Ocke konzentrierte sich aufs Gitarrespiel, so gut es ging. Komischerweise hatte ihn sein Schöpfer mit einem kräftigen Körper, aber sehr langen, schmalen Fingern ausgestattet. Fast zu fein für einen Mechaniker, würde man meinen, aber diese Finger hatten ihm im Maschinenraum oft geholfen, jede auch noch so verwinkelte Schraube hinter sperrigen Rohren herauszufummeln, und zum Gitarrespielen waren sie perfekt.
Als sie den alten Cat-Stevens-Titel
Morning has broken
zu Ende gespielt hatten, bat Arne um eine Pause. Er wollte sich noch ein Glas Bowle holen, obwohl er schon vorher gut dabei gewesen war.
Ocke blieb etwas unbeholfen auf seinem Platz sitzen. Ihm war nicht nach Alkohol zumute. Er fürchtete jeden Moment, dass Christas Lover auftauchte und seine behaarten Affenarme um sie schlang. Wenn die beiden vor ihm stehen würden, rechnete er ernsthaft damit umzukippen.
«Super, so eine Elektrogitarre», rief ihm der Mann mit dem Mondgesicht zu.
«Spielen Sie auch?», fragte Ocke, froh über die Ablenkung.
«Ein bisschen.»
«Wollen Sie?»
Das Gesicht des Mannes leuchtete auf. «Gerne! Ich bin übrigens Dr. Bösinger, ich habe mich auf Amrum um Imke Riewerts gekümmert.»
Ocke fragte nicht nach, wie er das meinte. Er schnallte die Gitarre ab und hängte sie Herrn Bösinger um, wobei er noch ordentlich am Gurt zuppeln musste, bis der passte. Da der Mann um einiges kleiner war als er, musste auch der Mikrophonständer tiefer gestellt werden.
Offenbar liebte der Mondgesichtige christliche Popmusik. Er begann mit
Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer.
Die Töne schmierten ihm immer leicht ab, was er nicht zu merken schien. Unbeirrt kündigte er den nächsten Song an, womit er gleichzeitig den Missionsauftrag der Bibel wahrnahm:
«Das nächste Lied erzählt von der Güte Gottes, es ist ein fröhliches Lied. Denn Jesus hat eine gute Nachricht für uns alle: Er ist gekommen, um uns von der Sünde zu befreien.»
Inzwischen war es dunkel geworden. Der Wind fegte jede Serviette weg, die nicht festgehalten wurde, und formte Frisuren so, wie es ihm gerade gefiel. Versuche, überflüssige Körperrundungen mit weit geschnittenen Hemden zu kaschieren, wurden erbarmungslos zunichtegemacht, weil der Wind die Stoffe eng an die Körper wehte. Zum Glück war die Luft nicht kalt. Die Bowle wurde schnell hinuntergekippt, sie schmeckte fruchtig und frisch, und die Gäste hatten Durst, deshalb tranken sie gleich noch ein Glas hinterher.
Ocke, den Herr Bösingers Gesang zu nerven begann, wühlte sich durch die Gästeschar, die auf schätzungsweise hundert angewachsen war und sich rund ums Haus verteilte. Bei seinem letzten Zahnarztbesuch hatte er im Wartezimmer in einer Zeitschrift etwas von der sogenannten Konfrontationstherapie gelesen. Eigentlich hielt er so etwas für Psycho-Quatsch, aber mit einem Mal schien es ihm gar nicht so unbrauchbar: Man schickte Menschen dorthin, wo genau sie sich am meisten fürchteten, also Leute mit Flugangst ins Flugzeug, Leute mit Höhenangst auf einen hohen Berg. Dort redete man mit ihnen und baute ihre Beklemmungen nach und nach ab.
Vielleicht half das ja auch ihm.
Denn ohne Zweifel war er schwerer Christa-und-ihr-Lover-Phobiker. Was war also hilfreicher, als sich ihnen direkt auszusetzen? Und zwar jetzt, sofort.
Leider war Christa nirgends zu sehen.
Imke saß immer noch am Eingang auf der anderen Seite des Hauses und war voll und ganz mit dem Bowleausschank beschäftigt.
«Die ist aber stark», beschwerte sich die mondgesichtige Begleitung von Herrn Bösinger, vermutlich seine Frau. Sie wirkte so, als sei sie Alkohol nicht gewöhnt.
«Das ist nur Rumgeschmack mit Gewürzen», verriet ihr Ocke im Vorbeigehen. «Da ist kaum was drin.»
Imke zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Beim Einwecken vor zwei Jahren hatte sie die Früchte in puren fünfzigprozentigen Rum gelegt, wo sie seitdem nichts anders getan
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