Oma ihr klein Häuschen
Eigentlich ist es mein Lieblingswetter, doch für das, was wir jetzt vorhaben, ist der starke Wind gar nicht gut.
«Meinst du wirklich, wir sollen es wagen, bei diesem Wetter?», frage ich Arne, als ich in seinen klapprigen V W-Bus steige. Arne trägt eine dicke wetterfeste Jacke. Gedankenverloren reicht er mir ein Brötchen mit einer Paste, die nach Tofu schmeckt.
Heute ist also wieder Veganertag.
«Wir können nicht warten», raunt er mit leiser Stimme.
Er ist genauso nervös wie ich.
Da fällt mir ein, dass ich seinen Businessplan noch gar nicht genauer gelesen habe. Zum Glück sind jetzt andere Sachen wichtiger.
Wir passieren die beiden Duckdalben vor dem einstöckigen Inselkrankenhaus, das still in der Morgensonne liegt. Auf dem Parkplatz eines diensthabenden Arztes stellt Arne den Bus ab, direkt neben der Notaufnahme.
«Sollen wir Cord nicht doch Bescheid sagen?», überlegt er.
«Der dreht uns nur durch», fürchte ich. Dabei bin es eher ich, der durchdreht.
«Wer weiß, wie es Mama geht», hält Arne dagegen. «Wir können jetzt jede Hilfe brauchen.»
Aber er scheint den Gedanken schon verworfen zu haben, denn im nächsten Augenblick springt er aus dem Wagen, und wir eilen ums Haus zum Haupteingang. Die gläserne Schiebetür springt automatisch auf. Das ist aber auch schon das Einzige, was von selbst passiert.
«Dürfen wir einer Herzkranken überhaupt eine solche Nachricht bringen?», zweifelt Arne, während wir Omas Zimmer suchen. Überall in den Fluren hängen Buntstiftbilder von abstrakten Segelbooten, die über abstrakte bunte Meere gleiten.
Sollen die zur Heilung beitragen?
Mich machen sie kirre, aber ich bin ja auch gesund.
«Wenn Oma ihr Leben mit diesem Mann verbracht hat, hat sie ein Recht darauf, es selber zu entscheiden», finde ich.
Arne ist da nicht so sicher: «Aber es ändert doch nichts, er wird so oder so sterben.»
«Ich wäre auch froh, wenn meine Geliebte in so einem Moment bei mir wäre, du nicht?»
«Ich habe keine Geliebte», knurrt Arne.
«Ich auch nicht.»
«Dann müssen wir beide wohl alleine sterben.»
Er meint es nicht mal ironisch, fürchte ich. Aber genaugenommen ist an dieser Aussage etwas dran: Wer würde mich finden, wenn ich allein in meiner Hamburger Wohnung sterben würde? Man liest ja manchmal in der Zeitung von Menschen, deren Leichen erst Wochen später entdeckt werden. Das wird dann gerne als Indiz für die Isolation in unserer Gesellschaft gewertet. Auf mich trifft das kaum zu. Ich habe viele Freunde, bin nicht vereinsamt, und trotzdem würde man mich wohl erst nach Wochen finden. Alle würden denken, ich sei spontan in Urlaub gefahren, und würden mir witzige Sprüche auf den Anrufbeantworter quatschen («Ist die Mafia hinter dir her, oder warum rufst du nicht zurück?»). Bevor jemand die Feuerwehr holt und die Tür aufbrechen lässt, könnten Wochen vergehen. Singleschicksal.
Andererseits, wenn ich tot bin, kann es mir auch egal sein.
Und heute geht es nicht um mich.
«Sollten wir nicht vorher den Arzt fragen, ob Mama überhaupt transportfähig ist?», zögert Arne.
«Und wenn nicht?»
«Du hast recht: Wir müssen das allein durchziehen.»
Nach kurzem Anklopfen betreten wir Omas Zimmer. Als Erstes sehe ich ihre ungefähr sechzigjährige Nachbarin im rosa Morgenmantel, der es gutzugehen scheint. Sie istunglaublich fett, ihre Wangen glühen rot, und sie hat die fettigsten Haare, die ich je in meinem Leben gesehen habe – mit strengem Mittelscheitel. Ihr ebenso fetter Mann sitzt an ihrem Bett, die beiden schauen im Vormittagsfernsehen eine Talkshow mit dem Titel: «Du bist ein fettes Schwein, ich hasse dich.» Ich sehe genauer auf den Bildschirm, um mich zu vergewissern: Es ist tatsächlich der Titel! Der Ton ist dröhnend laut eingestellt, im Zimmer riecht es verqualmt, was nicht daran liegt, dass hier jemand geraucht hätte. Nein, es ist der Mann, der derartig intensiv nach Qualm riecht. Die lassen wirklich kein Klischee aus. Oma liegt im Bett am Fenster und schläft. Sie ist an einen Tropf angeschlossen, was mir angst macht: Wie sollen wir sie so hier rausbekommen?
Es klopft, und im selben Moment wird die Tür aufgerissen. Typisch Krankenhaus: Ein «Herein» abzuwarten, sieht das Personal als vertane Zeit an. Schon stürmt eine Schwester mit einem jungenhaften Arzt ins Zimmer. Der darf höchstens seit zehn Jahren Auto fahren, aber schon operieren, daran muss ich mich wohl gewöhnen.
«Visite. Wenn die Besucher kurz rausgehen
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