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Oma klopft im Kreml an

Oma klopft im Kreml an

Titel: Oma klopft im Kreml an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Telscombe
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kommen», sagte Mrs. Cartwright düster. «Sie sind so vage, daß man ihnen wirklich jede beliebige Bedeutung unterschieben kann; aber der Haupttenor ist Schmeichelei. Nur weil wir Gäste sind, brauchen wir uns ja nicht gleich zu überschlagen und alles, was uns vor die Augen kommt, kritiklos zu loben. Das gibt doch einen völlig falschen Eindruck. Man muß ja annehmen, wir seien von der Sowjetunion völlig überwältigt und fänden hier alles besser als in unserem eigenen Land. Es wäre politischer Selbstmord, wenn ich mich auch nur mit einer von Sir Williams Reden identifizieren würde.»
    «Haben Sie deshalb heute abend selbst nicht gesprochen?» fragte Dr. Clark mit Interesse. Er hatte sich darauf gefreut, Mrs. Cartwright in Aktion zu sehen, denn ihre witzigen Ansprachen im Parlament waren schon fast zur Legende geworden.
    «Nein. Ich dachte nur, es waren genug Reden für einen Abend. Und wie Miss Baker wollte ich eigentlich lieber früh ins Bett gehen.»
    Sie erhob sich, stellte ihr leeres Wasserglas hin, das Miss Baker irgendwo für den Tee ausgegraben hatte, und musterte mit gerunzelter Stirn eine reich verzierte bronzene Stehlampe mit erdbeerfarbenem Schirm.
    «Schauderhaft, nicht wahr? Der in meinem Zimmer ist noch schlimmer. Ich hoffe wirklich, daß unser Hotel nicht typisch für den russischen Geschmack ist. Es ist zu trostlos. Vielen Dank für den Tee, Miss Baker. Höchstwahrscheinlich werden wir ja ab morgen getrennte Wege gehen. »
    «Wir sind Zimmernachbarn, und meine Thermosflasche steht Ihnen immer zur Verfügung», sagte Miss Baker herzlich.
    Aber wenn Miss Baker und die Delegation glaubten, ihre Trennung ließe sich so leicht vollziehen, so hatten sie nicht mit der Sturheit eines sowjetischen Besichtigungsprogramms gerechnet.

    Miss Baker war am nächsten Morgen noch beim Frühstücken (eine Reihe komplizierter Erklärungen an die Stockwerksverwalterin, von unten herauftelefonierte Übersetzungen, ausgiebiger Gebrauch der Zeichensprache und längeres Warten hatten ihr ermöglicht, der Delegation zu entkommen und in ihrem Zimmer zu essen), als die junge Dolmetscherin vom Vorabend an die Tür klopfte.
    «Wir haben das Vergnügen, Ihnen heute morgen eine Keksfabrik zu zeigen.»
    «Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich gehöre nicht zu der Delegation und bin außerdem an Keksfabriken nicht sonderlich interessiert.»
    «Bitte, was erregt sonst Ihr Interesse?»
    «Schulen», erwiderte Miss Baker prompt - entzückt, daß sich ihre eigenen Besichtigungen so mühelos organisieren ließen. «Kindergärten, Geschäfte, Privathäuser, Kirchen, alles, was mit jungen Leuten zu tun hat, Frauen bei den Beschäftigungen, denen sie überall in der Welt nachgehen: Kochen, Haushalt, beim Friseur.»
    «Das ist schwierig, aber ich werde sehen, ob etwas arrangiert werden kann.»
    «Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.»
    «Sie werden also jetzt nicht zu der Keksfabrik mitkommen? Die Wagen stehen bereit. Sie sind vielleicht ein bißchen müde von der gestrigen Reise? Es ist sehr ermüdend, wenn man schon älter ist?»
    «Ja, ich bin ein bißchen müde.»
    Das schien, aufs ganze gesehen, die beste Erklärung, hinderte Miss Baker aber nicht, sich schnellen Schrittes in Bewegung zu setzen, sobald sie annehmen konnte, daß die Delegation das Hotel verlassen hatte, und durch ein Labyrinth von Straßen in das Hauptgeschäftsviertel zu wandern. Sie hatte keine Rubel und begnügte sich damit, ziellos durch mehrere überfüllte Geschäfte zu schlendern - eine Bäckerei, ein Feinkostgeschäft, einen Kurzwarenladen.
    Auf den Gehsteigen wimmelte es von Menschen, sie schoben und drängten, bis sie Bekanntschaft mit der Spitze von Miss Bakers Regenschirm machten, den sie bald rücksichtslos in Aktion setzte, um ihren geraden Kurs auf der linken Seite des Bürgersteigs fortzusetzen. Seit siebzig Jahren pflegte Miss Baker auf der linken Seite des Bürgersteigs zu gehen, und ein paar tausend Russen konnten sie daran nicht hindern.
    Nach einigen Stunden suchte sie sich - nicht ohne Schwierigkeit, denn sie war weit gelaufen - den Weg zurück ins Hotel. Dann verbrachte sie den Rest des Vormittags damit, einen Teil ihrer mageren Reiseschecks in Rubel umzuwechseln. Da sie auf dem Hinweg noch kein russisches Geld für ein Taxi hatte, lief sie zur Bank, und um das Fahrgeld zu sparen, machte sie auch den Rückweg zu Fuß.
    Sie war über den Preis ihres leichten Mittagessens im Hotelrestaurant verblüfft, nach ihrem langen Marsch durch die Stadt

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