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Oma klopft im Kreml an

Oma klopft im Kreml an

Titel: Oma klopft im Kreml an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Telscombe
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Reden von Horace Cleghorn (Theorie des Kommunismus) erwartet, von Emlyn Richards (Zustände in den Bergwerken) und von Mrs. Hoskins (die Genossenschaftlichen Bewegungen), war aber durchaus nicht darauf vorbereitet, daß James Bailey, der sich sonst damit die Zeit vertrieb, Karikaturen der Redner zu zeichnen, während des Fischgangs aufstand und eine amüsante und äußerst kurze kleine Dankansprache hielt.
    Mrs. Cartwright erntete starken Applaus, als sie ihren Dank auf russisch anbrachte - einige Sätze, die sie am Nachmittag von Nina gelernt hatte -, und ärgerte damit Sir William gewaltig, weil er auf diesen einfachen Trick nicht selbst verfallen war.
    Obgleich er bereits alles gesagt hatte, was je zu sagen war, fühlte er sich bemüßigt, das alles noch einmal zu wiederholen.
    «Ganz unser Willie», murmelte Dr. Clark sarkastisch. «Der große Klischeeverbraucher. Walz sie nur breit und wate drin herum. Wir schlafen sowieso.»
    Boris, der neben ihm saß und in größter Eile mehrere Gänge auf einmal hinunterzuschlingen versuchte, während Nina dolmetschte, konnte zwar nicht ganz folgen, glaubte aber zu verstehen, daß diese Bemerkung nicht unbedingt freundlich gemeint war. Als er einen Augenblick später sah, wie Dr. Clark eine Seite aus seinem Notizbuch riß und etwas daraufkritzelte, vermutete er, daß sein Nachbar ein politisches Fehlurteil in der Rede des Anführers entdeckt hatte und jetzt die Opposition auf den Plan rufen wollte.
    Er beobachtete, wie der gefaltete Zettel an Mrs. Cartwright weitergereicht wurde, die ihn, nachdem sie lächelnd etwas dazugeschrieben hatte, an Miss Baker weitergab.
    Als Sir William nach zehn Minuten schließlich widerstrebend zum Ende gekommen war, schob Horace Cleghorn seine Manuskriptzettel säuberlich zusammen und erhob sich zu seiner Rede. Diesmal schien er das kommunistische Dogma mit noch größerer Gründlichkeit vor ihnen ausbreiten zu wollen als sonst.
    Da Horace Cleghorns Reden bisher meist das russisch-britische Rededuell beschlossen hatten, begann alles, schneller zu essen. Der abschließende Kaffee und das allgemeine Händeschütteln schienen nicht mehr fern.
    Aber der spärliche Beifall war kaum verklungen, als Miss Baker ihren Stuhl zurückschob und sich erhob. Zwei Wochen lang hatte sie sich jetzt Reden angehört, die entweder völlig unverständlich oder so voller Phrasen waren, daß sie praktisch sinnlos wurden. Durch Dr. Cleghorns Schlußadresse aus ihrer Trance geweckt, hatte sie sehr plötzlich den Entschluß gefaßt, daß endlich eine vernünftige Rede angebracht sei.
    Die russischen Zuhörer, neugierig zu hören, was die bemerkenswerte alte Dame zu sagen hatte, begrüßten diese Entwicklung mit respektvollem Schweigen. Sir William aber, von Miss Bakers Absicht völlig überrumpelt, hatte keine Zeit mehr aufzuspringen und die zu erwartenden eindeutigen Worte durch eigene Gemeinplätze zu ersetzen.
    «Ich bin weder das jüngste Mitglied dieser Delegation, noch habe ich mich je mit Theorie und Philosophie des Kommunismus beschäftigt. Im Gegensatz zu einigen Mitgliedern dieser Delegation bin ich nicht einmal geübt im Halten von Reden. Aber als alte Frau würde ich den sowjetischen Männern gern einen kleinen Rat geben.
    Ich habe viel von der Welt gesehen, und seit ich in Moskau bin, überlege ich mir dauernd, was hier eigentlich von dem fehlt, das mein langes Leben so vielfältig, so interessant und mir so wertvoll gemacht hat. Wir haben viel von Moskau gesehen - Schulen, Fabriken, Kolchosen, Arbeiterklubs, Krankenhäuser -, genug, um zu wissen, daß Rußland alles Wesentliche hat, das man zum Leben braucht. Aber ich finde es schade, daß Sie das Unwesentliche so vernachlässigen. Frauen hängen, vielleicht mehr als Männer, am Unwesentlichen im Leben. Das hilft ihnen, weiblich zu sein.
    Überall, wo wir waren, lag der Hauptakzent immer auf der Arbeit. Nina hat mir erzählt, daß in der Sowjetunion jede Arbeit herrlich ist. Aber das, was man in der Freizeit tut, kann genauso wichtig sein - wenn schon nicht für den Staat, dann doch für einen selbst. Das bildet Charakter und Individualität und macht glücklich. Es ist ja sehr schön, Fünfjah- ] respläne zu haben und Preise für hartes Arbeiten zu vergeben; es ist ja sehr schön, die Frauen dafür zu loben, daß sie schwere Lasten tragen und so hart wie die Männer arbeiten, wenn nicht härter. Aber die Frauen sollten auch dafür gelobt werden, daß sie einfach Frauen sind. Daß sie nichts tun, hübsch

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