Oma packt aus
Finger nach oben. »Schaffst du es alleine?«
»Logo.«
»Gut. Ich kümmere mich um Rüdiger.«
»Wen?«
»Geh einfach schlafen, Spatz.«
Na gut. Ich ging doch lieber erst unter die kalte Dusche.
Nachdem ich ungefähr zehn Minuten dort im Stehen geschlafen hatte, fühlte ich mich fit genug, um alle Nachrichten und verpassten Anrufe auf meinem Blackberry zu checken. Keine Nachricht. Nur ein Anruf. Der von vorhin, den Großtante Marie zuerst gehört hatte. Von Jan. Nicht von Paul.
Ich war jetzt richtig froh, besoffen zu sein. Schnaps ist in größeren Lebenskrisen keine Lösung. Das weiß ich auch.
Aber manchmal ungeheuer hilfreich.
Ich schlief jedenfalls fest ein.
6. Jan im Glück
»Kopfweh«, stöhnte ich ins Blackberry.
»Mein armer Schatz, soll ich dir die Schläfen massieren?«, erkundigte sich mitfühlend mein Liebling.
»Hm, das wäre wundervoll.«
»Mensch, Kröte, hast du was an den Ohren?«
Es war Jan. Nicht Paul. Nur mein Bruder nannte mich Kröte.
»Oder bist du mal wieder irgendwo gegen gerannt?«
»Ja, gegen Opas Fahrradlenker. Was hast du eben gesagt?«
»Bin weg von der Schanze. Das musste ja passieren.«
»Was?«
Ich setzte mich im Bett auf, was nicht so einfach war. Der Köm von gestern bohrte ein halbes Dutzend Pfeile durch mein Gehirn, und auf meiner Seele saß ein dicker Stein. Groß wie der Findling an Opas Urnengrab. Dafür merkte ich nichts mehr von der Beule. Immerhin. Man sollte das halb volle Glas sehen, nicht das halb leere.
Hm.
An Gläser mit klarer Flüssigkeit sollte man unter gewissen Umständen auch nicht denken. Ich starrte fest auf den jungen Robbie Williams. Der hatte es auch früher schon geschafft, mich vom Würgreiz abzulenken.
»Bist du endlich wach?«
»Ja doch.«
»Hast du getrunken?«
»Ein bisschen.«
»Ist dir schlecht?«
Help, Robbie!
»Nee.«
Ich riss mich ganz gewaltig zusammen. Mein kleiner Bruder hatte mir etwas Wichtiges mitzuteilen.
»Erzähl mir alles. Was soll das heißen, du bist weg von der Schanze?«
Jan war Friseur, und zwar ein hervorragender. Seit Jahren arbeitete er in einem Salon im Hamburger Schanzenviertel, und bis vor zwei Monaten war er in seinen Chef Eike verliebt gewesen, vorwiegend unglücklich. Dieser Eike war nämlich verheiratet und lebte seine wahre sexuelle Neigung nur im Geheimen aus. Und nicht immer nur mit Jan. Mein Bruder war lange Zeit nicht viel besser dran gewesen als ich, die ich dreizehneinhalb Jahre lang meiner Jugendliebe nachgeweint hatte. Der Gesprächsstoff ging uns in jener Zeit jedenfalls nie aus.
Aber endlich kehrten die Störche in unser Nest der Lüttjens’ zurück; Hans-Dieter trat in Jans Leben, Paul in meins.
Ach Gott, die Störche. Wieso dachte ich auf einmal an Cindy und Bert? Musste am Restalkohol liegen.
Und so lebten sie glücklich bis an ihr Ende. Jan und Hans-Dieter, Nele und Paul. Oder auch nicht. Jedenfalls nicht alle.
Ich rutschte wieder ein bisschen tiefer in die Kissen.
»Ist es eine lange Geschichte?«, fragte ich. Konnte sein, dass mein Liebling gerade versuchte, mich anzurufen.
»Du wirst ja wohl mal fünf Minuten für mich übrig haben!«
»Klar doch. Sorry.«
Aus den fünf Minuten wurden gute zwanzig. Ich wagte nicht zu protestieren. Jan sprach lange vom Leben in der Großstadt und davon, wie ungesund das auf Dauer sei. War gar nicht seine Art, so um den heißen Brei herumzureden. Eben gerade war er doch auch mit einer echten Hammernachricht herausgeplatzt.
Der dicke schwarze Zeiger der Ikea-Uhr rückte gnadenlos weiter. Leise Panik überfiel mich. Was musste Paul denken, wenn bei mir eine Ewigkeit lang besetzt war? Dann fiel mir die Anklopffunktion ein, und ich entspannte mich wieder. Sobald der Signalton erklang, würde ich Jan auf später vertrösten. Der war mittlerweile bei der Feinstaubbelastung angekommen.
»Und wegen unserer guten Luft in der Lüneburger Heide willst du dein Leben in der Stadt aufgeben?«, erkundigte ich mich.
»Na ja, auch.«
Langsam verlor ich die Geduld. »Jan, nu ist mal gut. Raus mit der Sprache.«
Und so erfuhr ich endlich, dass mein Bruder bereits vor zwei Wochen den Job im Salon gekündigt hatte und dabei war, seine kleine Wohnung aufzulösen.
»Wow!«
»Ziemlich verrückt, was?«
Ich entschied mich gegen einen Kommentar. Jan mochte seit Jahren ein interessantes und nicht so streng konservatives Großstadtleben führen, aber tief in seinem Innern war er der Junge vom Land geblieben.
»Was hätte Opa Hermann wohl dazu
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