Oma packt aus
Großstädterin kannte sie sich erstaunlich gut mit Ponyrassen aus.
Vielleicht stammt sie ja ursprünglich vom Land, überlegte ich.
Genau!
So erklärten sich auch die Unstimmigkeiten in ihrer Erscheinung und ihrem Verhalten. Jeans und Sweatshirt rutschten dabei ebenfalls an den richtigen Platz. Und mein verrückter Gedanke kam mir schon deutlich weniger verrückt vor.
Als junge Frau war sie dann nach Hamburg gezogen, hatte dort den Reedersohn und späteren Senator Kurt Wedekind kennengelernt und ihr Glück gemacht.
Heureka!
Darauf hätte ich auch schon früher kommen können. Und jetzt fühlte ich mich unserem Gast plötzlich nicht nur räumlich, sondern auch geistig eng verbunden. War ich doch ebenfalls als junge Frau vom Land in die große Stadt geflüchtet.
Allerdings war meine Liebe zur neuen Heimat nicht so weit gegangen wie die ihre. Sonst hätte auf meinem Blackberry bei jedem Anruf ein zünftiges Lied erklingen müssen: »In München steht ein Hofbräuhaus, eins, zwei, g’suffa …« – gesungen von Marianne & Michael.
»Ist schon in Ordnung. Er vermisst dich auch«, sagte Irene gerade friedfertig. »Seit er keine Zahnschmerzen mehr hat, frisst er übrigens noch mehr als sonst.«
Sie erzählte die Geschichte von der Brötchentüte und von Omas Einkaufsnetz.
Kurts Lachsalven dröhnten bis zu mir unters Bett.
Dann gab sie Auskunft und beantwortete damit auch meine eigenen Fragen.
»Nein, im Augenblick ist niemand hier. Außer Nele, aber die scheint noch zu schlafen. Olaf Lüttjens ist mit seinem uralten Mercedes in die Werkstatt gefahren, und Heidi hat gesagt, sie habe etwas Dringendes in Hamburg zu erledigen. Die Großmutter, Grete, wollte zum Friedhof, und Großtante Marie liegt in einem Liegestuhl in der Sonne. Ist es in Hamburg auch so warm? Was? Ja, bis auf Nele bin ich allein im Haus …«
Sie legte eine Pause ein und lauschte. Zu schade, dass ihr Handy nicht auf Lautsprecher gestellt war. Ich hätte auch gern Kurts Meinung gehört.
Brennend gern!
Na, indirekt bekam ich sie dennoch mit.
»Auf keinen Fall!«, protestierte Irene entschieden. »Ich werde hier nicht herumspionieren.«
Ich schon, dachte ich mit kolossal schlechtem Gewissen.
»Und nur weil ein paar deiner Vorfahren Piraten waren, heißt das noch lange nicht, dass ich kriminell werden muss.«
Piraten?
Wow!
»Ich übertreibe überhaupt nicht! Ich will mir auf dem Hof keine Feinde machen, sondern Freunde.«
In meinem staubigen Versteck rätselte ich eine Weile vor mich hin. Okay, es ging ihr nicht nur um einen Urlaub bei uns. Um eine feindliche Übernahme des Lüttjenshofes jedoch auch nicht. Öl- und Wasserquelle konnte ich ebenfalls streichen.
Irene Wedekind suchte unsere Freundschaft.
Warum?
Und wollte sie sich mit uns allen gleichermaßen anfreunden oder nur mit einem bestimmten Familienmitglied?
Wenn ja, mit welchem? Mit mir etwa?
Verflixt! Das wurden ja immer mehr Fragen, die so durch meinen Kopf sausten. Ich wünschte, ich hätte meine Gedanken abstellen können, die jetzt alle in dieselbe Richtung strebten.
Hm, feindliche Übernahme. Ich stellte mir Irene im Piratenkostüm mit Kopftuch, Augenbinde und Enterhaken vor.
Nicht lachen, Nele! Nicht niesen, Nele! Nicht knurren, Magen!
Echt ein tolles Timing, um mich an das fehlende Frühstück zu erinnern.
»Warte mal, Kurt. Ich glaube, ich habe Rüdiger gehört.«
Rüdiger?
Na ja.
»Nein, schon gut. Muss mich getäuscht haben. Also, wie gesagt, ich brauche Zeit. Die älteren Damen sind ganz schön misstrauisch. Vor allem Grete, aber auch Heidi. Die haben gestern versucht, mich auszuhorchen, während sie mich mit Köm abgefüllt haben. Wäre ihnen auch fast gelungen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich nur noch so wenig vertragen kann. War früher mal anders, aber das ist halt lange her.«
Ja, dachte ich, deine Zeit bei der Landjugend liegt ein paar Jahrzehnte zurück. Sektempfänge in Hamburger Nobelhotels unterfordern die Leber. Mein nächstes Geräusch wäre beinahe ein Kichern geworden.
Ich machte den Mund fest zu und schluckte ein bisschen Staub.
»Eine Woche«, hörte ich Irene sagen. »Aber vielleicht ergibt sich auch schon früher etwas.«
Kurt antwortete.
»Natürlich passe ich auf mich auf. Mach dir keine Sorgen. Ich komme schon damit zurecht.«
Kurt hatte offenbar noch einen weiteren guten Ratschlag parat.
»Ja«, erwiderte Irene, aber ihre Stimme klang nicht mehr ganz so fest. »Ja, auch wenn es schiefgeht. Du kennst mich. Ich bin stark. Aber
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