Oma packt aus
desto stärker wurde ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend. Ich hatte nicht nur Angst vor dem, was Paul mir sagen wollte, ich sorgte mich auch um Irene. Schließlich hatte ich sie auf den Hof gebracht. Wenn sie von Grete in den Brunnenschacht geworfen oder von Marie mit Knollenblätterpilzen vergiftet wurde, dann war ich dafür verantwortlich. Na gut, der Brunnen war vor Jahren zugeschüttet worden, und meine geliebte Großtante Marie war keine Giftmischerin, aber …
Bevor ich mir weitere Horrorszenarien ausmalen konnte, fand ich zu meiner Überraschung einen Parkplatz direkt vor Pauls Kanzlei.
Ein Wunder. Ein Zeichen des Himmels. Ich sollte da jetzt rein, zu ihm. Alles würde gut werden.
Oder auch nicht.
Ich sah, wie Horst Meyer das Gebäude verließ. Noch ein Zeichen.
Nele, du Bangbüx, jetzt mal los!
Bevor ich weiter nachdenken konnte, bahnte ich mir bereits meinen Weg durch das dschungelgrüne Vorzimmer, an der Sekretärin vorbei, in Pauls Büro.
Er saß am Schreibtisch und telefonierte.
Als ich eintrat …
Nein, falsch.
Als ich wie eine Furie hineinstürmte, hob er die Augenbrauen, beendete knapp sein Gespräch und stand auf.
»Nele.«
Keine ausgebreiteten Arme, kein Kniefall.
Verlobungsring?
Vergiss es!
»Was soll das?«, fuhr ich ihn an. »Wieso gehst du tagelang nicht ans Handy?«
»Wir haben gestern Morgen miteinander telefoniert«, erklärte er mit der Anwaltsstimme, die ich nicht so besonders mochte. »Von Tagen kann also keine Rede sein. Höchstens von vierundzwanzig Stunden.«
Das stimmte.
»Es hat sich aber so angefühlt!«
Das stimmte auch. Ein winziges Lächeln blitzte in seinen Mundwinkeln auf, aber als sein Blick kurz zum Telefon auf seinem Schreibtisch flog, verschwand es gleich wieder. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet.
Dann sagte Paul einen Satz, den ich lieber nicht gehört hätte: »Ich habe gerade meine Mailbox abgehört.«
»Ach?«, machte ich unschuldig, während ich panisch überlegte, was ich da vor ein paar Stunden so draufgesprochen hatte. Manchmal sabbele ich schneller, als ich denke.
»Ich bin also ein nachtragender Mistkerl?«, erkundigte sich Paul.
»Äh …«
»Ein blöder Rechtsverdreher, der es nicht verkraftet, wenn er mal versetzt wird?«
»Also …«
»Ein lebensuntüchtiger Vollidiot?«
Oh Gott!
»Einer, der das Pferd vom Schwanz aufzäumt?«
Upps!
Das war Opa, hätte ich gern gesagt, ließ es aber.
»Paul, es tut mir so leid. Du weißt doch, dass ich manchmal nicht weiß, was ich so rede.«
»Weiß ich.«
»Und ich fand es wirklich komisch, dass du dich gar nicht mehr gemeldet hast. Ich dachte, ich dachte …«
»Was?«
»Dass du mit mir persönlich Schluss machen willst. Nicht am Telefon.«
Plötzlich war es da.
Pauls großes Lachen. Es brach aus ihm heraus und erfüllte das Büro mit Sonne. Zu kitschig? Es war aber so. Da war er wieder, der Mann, den ich liebte. Und er lachte mich an, nicht aus.
Jedenfalls zu neunzig Prozent.
»Ist das lustig?«, fragte ich vorsichtig.
Paul kam um den Schreibtisch herum auf mich zu und blieb einen Meter vor mir stehen. Seine Arme waren hinter dem Rücken verschränkt, aber seine Augen lachten immer noch.
»Ich habe mein Handy verloren«, sagte er schlicht.
Eine kleine Ewigkeit verging, bis die Information endlich von meinen Gehirnzellen verarbeitet wurde.
»Du … hast … dein … Handy … verloren?«
Nee, ne?
»Echt jetzt?«
»So ist es.« Paul log nicht. Genauso wenig wie seine Mailbox.
»Wahrscheinlich im Möbelhaus, aber es konnte dort bisher nicht gefunden werden. Deine Handynummer weiß ich leider nicht auswendig, aber gestern Abend habe ich ein paar Mal versucht, bei euch zu Hause anzurufen. Es ist bloß niemand rangegangen.«
Ach ja. Wir waren beschäftigt gewesen. Und unser modernes schnurloses Telefon wurde im großen Bauernhaus gern mal verlegt und blieb in seinem Versteck, bis die Batterie leer war.
»Wenigstens ist es mir gelungen, meine Nachrichten abzuhören.«
Blöde moderne Technik! Das mit der Mailbox hätte er lassen sollen. Dann würde ich jetzt längst in seinen Armen liegen.
Früher waren einige Dinge wirklich einfacher gewesen. Da konnte man manchmal noch zurücknehmen, was man eigentlich nicht hatte sagen oder schreiben wollen. Wie den Brief an Karl zum Beispiel. Nach einem dummen kleinen Streit hatte ich ihm eines Abends auf weißem Büttenpapier geschrieben, was ich von ihm hielt, und den Brief direkt bei den Küppers in den Postkasten
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