Oma packt aus
meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Da war nichts Persönliches zu entdecken. Kein Foto, kein oft gelesenes Buch. Auch kein aufgeklappter Laptop. Rein gar nichts.
Als sei sie eine Frau ohne Vergangenheit.
Grübelnd strich ich mir übers Haar.
Im selben Augenblick hörte ich energische Schritte, die sich dem Zimmer näherten.
Vielen Dank auch, Jan!
Panisch sah ich mich nach einem Versteck um.
8. Rolling Home
Eine Staubflocke kitzelte mich in der Nase, eine zweite setzte sich auf meine Oberlippe. Wollen doch mal sehen, ob wir dich nicht zum Niesen bringen, schienen sie zu sagen.
Um mich abzulenken, schimpfte ich im Geiste mit dem Zimmermädchen, das unter dem Bett so nachlässig gesaugt hatte. Klarer Kündigungsgrund.
Tja, dumm gelaufen. War ich selbst gewesen, dieses schlampige Zimmermädchen.
Aber es sollten ja auch keine Gäste mehr kommen. Da durfte das Zimmer ruhig ein wenig einstauben.
Schäm dich, Nele. Im Kiefers hättest du so etwas nicht durchgehen lassen.
Mein Ablenkungsmanöver drohte zu scheitern. Höhe Nasenwurzel sammelte sich bereits ein heftiger Niesreiz. Ich lag flach unter dem Bett und kämpfte einen verzweifelten stummen Kampf, während die energischen Schritte jetzt die Zimmertür erreichten.
Viel zu schnell!
Hätte ich mich doch lieber im Schrank verkriechen sollen? Aber der war sehr klein und antik. Keine Ahnung, ob ich da reingepasst hätte, und Zeit, beide Möglichkeiten auszuprobieren, hatte ich nicht gehabt. Auch nicht, um schnell aus dem Fenster zu klettern, was die nächstliegende Option gewesen wäre. Also, ab unters Bett. Und nicht niesen!
In welchen Horrorfilmen liegt die Heldin unter einem Bett, bevor sie aufgeschlitzt wird?
Musste ich unbedingt mal Sissi fragen. Falls ich dazu noch Gelegenheit haben würde.
Ein Männerchor stimmte ein Shanty an. »Rolling home, rolling home, rolling home across the see, rolling home to di, old Hamburg, rolling home, mien Deern to di.«
Einen kurzen Moment brauchte ich schon, um zu begreifen, dass es sich nicht um eine akustische Halluzination, sondern um einen Klingelton handelte.
Die Schritte verstummten, und Irene sagte: »Hallo, Kurt. Schön, von dir zu hören.«
Kurt? Kurt Wedekind? So hieß ihr geschiedener Mann, wie ich von meinem Bruder wusste.
Offenbar waren die beiden in Freundschaft auseinandergegangen, denn Irenes Tonfall war entspannt. Sie kam jetzt herein und ließ sich aufs Bett fallen.
Ich sog scharf die Luft ein. Jeden Moment konnte ich vom Lattenrost aufgespießt werden. Innerlich verfluchte ich jede Bregenwurst, jedes Bauernfrühstück, jeden Strammen Max und jedes Honigbrötchen, die ich in den vergangenen Wochen verschlungen hatte. Die magere München-Nele hätte um einiges besser in diesen knapp fünfundzwanzig Zentimeter breiten Zwischenraum gepasst. Vor Schreck vergaß ich den Niesreiz. Immerhin.
Irene legte sich jetzt lang und verteilte ihr Gewicht gleichmäßig.
Halleluja!
»Gut«, sagte sie. »Abgesehen von einer leichten Magenverstimmung, mit der ich heute Morgen aufgewacht bin. Aber ich war eben in der Apotheke und hab mir ein paar Kautabletten geholt.«
Was ihre Abwesenheit erklärte.
»Was Falsches gegessen? Nein, eher getrunken.« Sie erzählte ihrem Exmann vom primitiven Brauch der Lüttjens’. Köm auf jeden Vornamen. Auch auf die buddhistischen.
»Meinst du?«, fragte sie, nachdem sie einen Moment seinem Kommentar gelauscht hatte. »So unfreundlich kommen sie mir aber gar nicht vor. Jedenfalls nicht alle. Und woher sollten sie überhaupt davon wissen? Die können doch nicht hellsehen. Außer dir habe ich niemanden eingeweiht. Und du würdest mich niemals verraten, das weiß ich.«
Oha! Der geschiedene Kurt hegte offenbar den Verdacht, dass gegen Irene intrigiert wurde, und mein Bruder war klüger, als ich dachte.
Da war wirklich was im Busch! Mein verrückter Gedanke meldete sich energisch zurück.
Ich lauschte angespannt, aber das Gespräch schweifte gerade ab.
»Ach, der fühlt sich ganz wohl im Stall. Er hat schon Freundschaft mit den Ponys geschlossen. Die heißen Ernie und Bert. Sind ganz süße Tiere.«
Aha, es ging um Rüdiger.
Irene schwieg einen Moment. Klang unheilvoll, das Schweigen.
»Nein«, sagte sie dann böse. »Das sind Isländer und keine Zwergponys.«
Ich verstand zweierlei. Erstens: Der geschiedene Kurt hatte offenbar einen Witz über Rüdigers bemerkenswerte Körpergröße gemacht – da wäre ich an Irenes Stelle auch sauer geworden.
Zweitens: Für eine
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