Oma packt aus
anderen sind alle fort. Nur Großtante Marie liegt draußen im Liegestuhl. Möchten Sie zu ihr gehen?«
Paul zögerte. »Nicht nötig«, entgegnete er schließlich. Offensichtlich hatte er sich davon überzeugt, dass Irene keine Massenmörderin war. Er besaß eben einen guten Blick für Menschen.
»Bitte richten Sie Nele aus, dass ich mich wieder melde. Auf Wiedersehen.«
»Ciao«, sagte Irene flapsig, was schon wieder nicht zu ihr passte.
Ein Motor wurde angelassen, ein Auto fuhr vom Hof.
Da ging er hin, mein Paul. Ich wollte mit. Rolling home, mien Jung, to di! Mein Herz blieb für ein Weilchen stehen.
Als ich endlich nach Luft schnappte, hatte Irene zum Glück das Zimmer verlassen. Ich nieste, hustete und würgte vor mich hin. Unter dem Bett war der Boden jetzt staubfrei. War alles in meiner Lunge.
Irenes energische Schritte entfernten sich in Richtung Ponystall. Schnell kam ich aus meinem Versteck hervor und flitzte nach oben. Wenn sie Rüdiger freiließ, würde der mich sofort finden, selbst wenn sein Kopf nicht unter den Lattenrost passte.
Oben in meinem Zimmer rief ich Paul an. Mailbox. Wie bescheuert war das denn? Da kam er extra her, um mich zu suchen, aber am Telefon wollte er nicht mit mir sprechen?
Ich erklärte der Mailbox ausführlich, was ich von diesem Betragen hielt.
Dann stieg Panik in mir hoch. Paul war ein anständiger Mann. Keiner, der per SMS, Mail oder in einem Telefongespräch Schluss machte. Paul war nicht feige. Der suchte das persönliche Gespräch.
Ich atmete ein paar Mal tief ein und hustete einige Staubflocken aus. Mein Geisteszustand war nur noch mit akuter Unterzuckerung zu erklären. Also: duschen, umziehen und endlich frühstücken! Jeder weitere Gedankengang musste jetzt mal warten, bis mein Körper versorgt war.
Als ich erfrischt wieder nach unten kam, fand ich in der Küche eine große Tüte Brötchen und einen Zettel von Irene. »Habe ich aus dem Dorf mitgebracht. Bin jetzt mit Rüdiger spazieren gegangen. Guten Appetit. Wir sehen uns später.«
Tolle Frau!
Eine halbe Stunde später sah die Welt schon wieder rosiger aus. Nach dem dritten Honigbrötchen und der vierten Tasse Kaffee schob ich alle Ängste bezüglich Paul beiseite und gefiel mir in der Rolle der Mata Hari.
Spionage mochte ja verwerflich sein, aber ich hatte interessante neue Erkenntnisse gewonnen.
Irene verfolgte tatsächlich einen besonderen Plan, aber sie kam in Frieden. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, was sie vorhatte.
Ob meine Ahnung stimmte.
Kleinigkeit.
9. Mailboxen lügen nicht
Während ich die Geschirrspülmaschine einräumte, kam Großtante Marie herein.
»Lass mich das machen, Kind. Du hast so hart gearbeitet in den letzten Wochen. Ruhe dich aus.«
Sie bewegte sich langsam, wie in Zeitlupe.
»Und du solltest den Winter im Süden verbringen«, sagte ich. »In der warmen Sonne.«
»Ach, das bisschen Rheuma. Ist nicht so schlimm.«
Lügnerin.
Sie nahm mir einen schmutzigen Teller aus der Hand.
»Wo ist Frau Wedekind?«
Marie hatte mit Irene offenbar keine Brüderschaft getrunken.
»Spazieren. Mit Rüdiger.«
Sie nickte langsam. Dann musterte sie mich aus klugen Augen. »Wer ist denn vorhin zu Besuch gekommen? Ich habe ein Auto gehört.«
»Das war Paul.«
»Und er ist schon wieder weg?«
Marie besaß ein feines Gespür für meine Stimmungen. Schon als ich ein kleines Mädchen war, hatte sie immer geahnt, was in mir vorging.
»Ja, er …«
»Warum nimmst du dir nicht einen Tag frei? Frau Wedekind versorgen wir schon, und du könntest in Lüneburg bummeln gehen.«
Sie sagte das ganz freundlich; dennoch beschlichen mich leise Zweifel, was mit dieser Versorgung gemeint sein mochte. Andererseits – Irene war eine erwachsene, große und kräftige Frau. Und sie hatte Rüdiger. Was sollte schon passieren?
Maries Miene drückte vollkommene Unschuld aus. Ich fiel darauf rein. Traute ihr einfach nichts Böses zu, meiner geliebten Großtante. Schon gar keine Intrige, bei der sie sich mit Grete hätte verbünden müssen. Außerdem war es an der Zeit, mich um mein eigenes Leben zu kümmern.
»In Ordnung«, sagte ich. »Dann mache ich mich mal auf den Weg. Jan kommt heute übrigens her. Er hat große Neuigkeiten, aber die soll er euch lieber selbst erzählen. Wir sehen uns spätestens heute Abend.«
Oder viel früher, falls mein Gespräch mit Paul eher kurz ausfallen sollte. Ich gab ihr einen Kuss auf die runzelige Wange und verließ das Haus.
Je näher ich Lüneburg kam,
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