Oma packt aus
Bellen bringen?«
Ich stellte mir vor, wie ich den armen Kerl fesselte und ihm ein Dutzend Rosinenbrötchen außer Reichweite hinlegte.
Musste mich mal kurz einem ausgedehnten Kichern hingeben.
»Solange du noch lachen kannst, ist ja alles halb so wild«, erwiderte Jan düster. »Was sagt eigentlich Paul zu der Geschichte?«
Mein Lachen verflog. Gute Frage. Ach, Paul.
Virtuell angeklopft hatte er auch nicht.
»Er … also …«
Jan unterbrach mich. »Pass auf, mein Akku ist fast leer, und das Ladegerät hab ich schon in eine der Kisten gepackt. Ich fahre jetzt los, und du kannst mir nachher alles erzählen, okay? Dann überlegen wir uns, wie wir in der Sache vorgehen wollen.«
»Alles klar«, sagte ich schnell und drückte das Gespräch weg.
War ganz froh, noch einen Aufschub zu haben. Bis Jan hier sein würde, hatte sich das dumme kleine Missverständnis mit Paul längst aufgeklärt. Ganz bestimmt!
Um mich abzulenken, überlegte ich, was Jan wohl tatsächlich mit Irene machen wollte. So wie der herumfantasierte, war ihm alles zuzutrauen. Auch ein Spaziergang zum Gellerser Moor, gleich hinter dem großen Waldgebiet, in dem ich sie gestern früh kennengelernt hatte. Die Frage war, ob Rüdiger da überhaupt reinpasste oder ob am Ende seine Schnauze herausragte.
Schluss jetzt, Nele! Restalkohol ist keine gute Begründung für einen Mord im Moor. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und lauschte in mich hinein.
Die Kopfschmerzen waren nicht mehr so schlimm, die Übelkeit hatte sich verzogen.
Die Beule von Opas Fahrradlenker gab schon nach einem Tag wieder Ruhe.
Prima. Auch als Adoptivkind war ich eben aus echtem Lüttjens-Holz geschnitzt. Der verrückte Gedanke von vorhin wollte sich in mein Bewusstsein drängen. Ich drängte ihn zurück.
Frühstück wäre jetzt gut. Viel Kaffee und mindestens drei frische Brötchen, die heute hoffentlich jemand anders geholt hatte. Und Rüdiger war währenddessen im Stall eingesperrt gewesen. Wehe nicht! Ich brauchte Nahrung! Knusprige Rundstücke, weiche Rosinenbrötchen, goldgelbe Butter, dickflüssigen Heidehonig.
Mit Schwung stand ich auf, ignorierte einen leichten Schwindel und schlüpfte rasch in Jeans und Pulli. Auf dem Flur empfing mich eine durchdringende Stille.
Merkwürdig. Selbst wenn wir keine Gäste hatten, gab es mitten an einem Vormittag im Haus viel zu tun. Wäsche waschen, putzen, kochen – und all das erzeugte Geräusche.
Nichts.
Ich ging die Treppe hinunter, lauschte und überlegte. Was hatte die Familie heute so vorgehabt?
Papa wollte seinen alten Mercedes zum TÜV bringen.
Okay.
Dann war Mama vielleicht mal wieder nach Hamburg abgebraust, um ihrer WG einen Besuch abzustatten.
Auch okay.
Aber Oma Grete und Großtante Marie? Die gingen nirgendwohin, außer in den Stall oder auf den Friedhof.
Hm, Friedhof. Möglich.
Aber beide auf einmal?
Im Leben nicht.
Jede wollte Hermann für sich haben. Auch im Urnengrab.
Rätselnd erreichte ich die Diele.
Heino gab keinen Laut von sich.
Und Irene? Ich schaute zum großen Gästezimmer und stellte fest, dass die Tür ein Stück offen stand.
»Hallo?«, rief ich leise. »Bist du da, Irene?«
Das Du kam nur zögernd über meine Lippen, vor allem nachdem ich von Jan über unsere Besucherin aufgeklärt worden war.
Jan.
Mist. Jan und sein blöder Vorschlag.
Ich näherte mich der Tür auf Zehenspitzen.
»Hallo?« Diesmal etwas lauter. Keine Antwort. Hey, warum sollte ich eigentlich nicht eines unserer Gästezimmer betreten dürfen? Es gehörte schließlich zu meinem Job als Pensionschefin, für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen.
Rasch schnappte ich mir aus der großen Wäschetruhe in der Diele ein paar frische Handtücher. Dann sah ich mich noch einmal nach allen Seiten um. Schon war ich drin. Da lag ein Koffer auf dem Bett. Wahrscheinlich von ihrem Hotel in Lüneburg nachgeschickt. Der Schrank war halb eingeräumt. Dolce & Gabbana, Chanel, Dior, Armani – keine Überraschung. Aber ganz hinten im Schrank, gut versteckt, entdeckte ich ein paar alte Jeans, ganz ohne Label. Und in der Schublade ein sackartiges Sweatshirt.
Komisch. Diese Klamotten schienen viel besser zu Irene zu passen als das Markenzeugs. Nur so eine Eingebung.
Ich stellte sie mir vor, in Jeans und Sweatshirt, vielleicht noch mit einem alten grünen Parka darüber und in Gummistiefeln. Die Haare zu einem Zopf geflochten.
Ja, diese Irene wäre irgendwie echt gewesen. Die andere – verkleidet.
Ach, Quatsch.
Langsam ließ ich
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