Oma packt aus
achtete nicht weiter auf sie.
»Und warum ist Ihnen dieses Mädchen überhaupt aufgefallen?«
»Aus zwei Gründen«, erklärte Herr Krochmann und warf sich in die Brust. »Zum einen benahm sie sich wie eine blinde Passagierin. Sie huschte ins Innere, als gerade niemand hinschaute. Zum anderen war sie die einzige in der Touristengruppe, die unter siebzig war.«
Hm, klug kombiniert.
»Sie wissen nicht zufällig, wohin der Bus gefahren ist?«, mischte sich Margherita ein.
»Bedaure, nein. Ich bin ja kein Hellseher. Aber ich habe mir das Kennzeichen aufgeschrieben. Nur für alle Fälle.«
Hm, Mafiafilme nicht, aber Fernsehkrimis auf jeden Fall!
Ich nahm den Zettel, den er mir reichte. Ein Reisebus aus Stuttgart.
Margherita riss ihn mir aus der Hand. »Bin gleich zurück.«
Währenddessen plauderten die Zwillinge mit Herrn Krochmann über die Schönheiten Apuliens und luden ihn zu einem Gläschen Wein ein, das er nicht abschlug. Er fragte auch höflich, ob er ein paar Fotos machen dürfe, beschränkte sich jedoch auf Marie und Graziella. Gretes finsteres Gesicht hätte sich nicht so gut auf Fotos gemacht, und der Padrone und Elena wirkten zu unnahbar.
Rüdiger war bei meinem Anblick übrigens wieder hinter dem Feigenbaum verschwunden.
»Ich hab’s!«, rief Margherita keine fünf Minuten später. »Ruckzuck gegoogelt.«
Ach ja, die Wunder der modernen Technik. Manchmal waren sie eben doch sinnvoll.
»Sonnenschein-Reisen, auf Apulien-Rundfahrt. Sie sind heute unterwegs nach Matera.«
Ich kramte mein Wissen über Süditalien hervor, das ich mir vor unserer Abfahrt angelesen hatte. »Ist das nicht die Stadt mit den Höhlenhäusern?«
Margherita nickte. »Genau. Die berühmten Sassi. Das Viertel ist eine der ältesten Siedlungen der Menschheit.«
»Und gigantisch groß«, erklärte Gianpaolo.
»Man kann sich da leicht verlaufen!«, fügte Gianpietro hinzu.
Mir wurde plötzlich kalt. Noch vor ein paar Stunden hatte ich an ein Erdloch gedacht.
»Ich habe die Handynummer des Reiseleiters«, teilte uns Margherita mit und tippte die Zahlenfolge bereits ein. Im nächsten Moment sprach sie mit dem Mann. »Ja, herzlichen Dank. Das Mädchen ist also mit Ihnen gefahren? Und wie lange sind Sie schon in Matera? Okay. Und Sie haben sie ganz sicher nicht mehr gesehen? Verstehe. Vielen Dank.«
Wir anderen schauten Margherita ohne große Hoffnung an.
»Klara ist erst auf halber Strecke entdeckt worden. Sie hatte sich in der kleinen Bar eingeschlossen. Und dann hat sie behauptet, sie wolle in Matera ihre italienischen Verwandten besuchen. Der Busfahrer und der Reiseleiter haben sie ziehen lassen. Sie behaupten, sie habe wie eine Achtzehnjährige gewirkt.«
»Achtzehn!«, rief ich und hätte um ein Haar auf den Boden gespuckt. Für Herrn Krochmann ein schönes Fotomotiv, falls er nach drei Gläsern Wein noch schnell genug gewesen wäre.
»Klara ist noch ein Kind!«
Margherita musterte mich aufmerksam. »Ja und nein. Ich habe sie ja ein bisschen kennengelernt. Einerseits gibt sie sich wirklich sehr erwachsen, und sie kann auch gut schauspielern. Andererseits wirkte sie auf mich in vielen Dingen sehr unreif.«
Ich nickte nur und schämte mich ein wenig für meinen Gefühlsausbruch.
Während die anderen mit dem Padrone über das weitere Vorgehen sprachen, horchte ich in mich hinein. Meine bisherigen Begegnungen mit Klara waren alles andere als erfreulich gewesen. Trotzdem wünschte ich mir brennend, sie gesund und munter wiederzufinden. Und das nicht nur aufgrund meines schlechten Gewissens. Auch nicht allein, weil sie Pauls Tochter war. Derzeit hätte das sowieso eher gegen sie gesprochen.
Nein, ich stellte fest, dass dieses Mädchen trotz seiner unmöglichen Art etwas in mir angesprochen hatte. Vielleicht, weil sie eine Außenseiterin war? Weil ich mich ganz ähnlich wie sie mein Leben lang gefühlt hatte, als würde ich nicht richtig dazugehören?
Ich seufzte tief und beschloss, uns beiden eine neue Chance zu geben, falls wir Klara gesund und munter wiederfinden sollten.
Als ich den anderen wieder zuhörte, ergriff gerade Gianpietro das Wort. »Ihr wisst, was man sich über die Sassi erzählt«, sagte er zu Margherita und seinem Bruder.
»Ich nicht«, erklärte ich. »Was erzählt man sich denn?« Die drei wechselten einen Blick, dann übernahm es Margherita, mich aufzuklären.
»In den Höhlenhäusern gibt es tiefe Brunnenschächte, und die sind bei – nun ja – Selbstmördern sehr beliebt. Sie wissen, dass
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