Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
erfuhr, tat er sie als Hirngespinste ab. Offenbar sah er es nicht als seine Aufgabe an, die Behauptungen der Angeklagten zu überprüfen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, einen Blick auf ihre amputierten Zehen zu werfen. Doch allein seine detaillierte Beschreibung und dass er versuchte, sich herauszuwinden, legt den Schluss nahe, dass er über die tatsächlichen Vorgänge sehr wohl im Bilde war: Die Angeklagten, die er vor sich hatte, waren von den Carabinieri grausam gefoltert worden.
Natürlich lagen dem Richter eine Vielzahl anderer Beweise vor: die Aussagen Maria Marvellis und ihres Sohnes Francesco Polito; die unzulänglichen Alibis der Verdächtigen; dazu die eindeutig falschen Zeugenaussagen zugunsten der Mafiosi, zumeist von ihren Frauen. Die Staatsanwaltschaft wies außerdem darauf hin, dass der vorgebliche Boss Francesco Macrì in einem Koffer eine Liste aufbewahrte, auf der die Namen der zehn Männer standen, die Befehl hatten, Paolo Agostino zu ermorden.
Der Richter kam zu dem Schluss, dass sämtliche Beweise die Geständnisse der Verdächtigen bestätigten, »ungeachtet der Art und Weise, wie ihre Aussagen zustande gekommen waren«. Er glaubte den Fall daher »ruhigen Gewissens« abschließen und auf weitere Maßnahmen gegen die offenkundig brutalen Verhörmethoden der Polizei verzichten zu können. Folter hin oder her, das Urteil gegen die
picciotti
in Cirella lautete schuldig.
»Alles im Staat. Nichts außerhalb des Staates. Nichts gegen den Staat.« Die totalitäre Ideologie des Faschismus gab den Polizisten offenbar die Erlaubnis, weit über die zulässigen Verhörmethoden hinauszugehen. Die Foltermethoden, die in diesem Fall zum Einsatz kamen, wurden vermutlich auch anderswo gegen Mafiosi und Camorristi angewandt. Doch selten findet man dafür so plastische, klare Beweise wie in den Prozessakten aus Cirella. Üblicherweise wurden Polizeibeamte zu Unrecht von Ganoven der Brutalität bezichtigt. Der Kampf des Faschismus gegen das organisierte Verbrechen war in der Tat oft ein schmutziger Krieg, doch wie häufig die Behörden tatsächlich ihre Macht missbrauchten, lässt sich nur erahnen.
Maria Marvellis Geschichte zeigt nur eine Momentaufnahme von den allmählichen Veränderungen, die in Kalabriens Mafia vonstatten gingen: von der neuen Heiratspolitik, die sich die
picciotti
zu eigen machten, und von der neuen Macht hinter den Kulissen, die einige Frauen auf diesem Wege erlangten. Maria Marvelli gehörte offenbar zu den Verlierern: Ihr Haus war abgebrannt, ihr Ehemann ermordet worden. Auch ihren Sohn sollte sie verlieren: Trotz seines Geständnisses wurde der junge Mann, der einmal der begehrteste kriminelle Junggeselle in Cirella gewesen war, unter den härteren faschistischen Gesetzen gegen kriminelle Vereinigungen zu sechs Jahren und acht Monaten verurteilt. Offen bleibt, ob die Carabinieri auch ihm die Zehennägel gezogen hatten; und offen bleibt auch, was im Gefängnis aus ihm geworden war.
Doch wenigstens erhielt Maria Marvelli als Ausgleich für ihre Verluste eine Entschädigung: zum einen die Genugtuung der Rache, zum anderen ein wenig Geld: Ihrer Kinder wegen hatte sie die Schuldigen verklagt und 26 000 Lire erstritten – ungefähr den Wert ihres Hauses.
Wir wissen nicht, wie Maria Marvellis Geschichte weiterging. Sie teilt das Schicksal vieler tausend gesichtsloser Mafiafrauen in der Geschichte, und so können wir nur raten, wie ihr Leben nach dem Prozess verlief. Falls sie nach Cirella heimkehrte, war ihr Dorf zweifellos noch immer im Griff der
Picciotteria
. Derselbe Richter, der sich gescheut hatte, die Carabinieri wegen ihrer wiederholten Angriffe auf die Gefangenen zur Rede zu stellen, vermied es auch, mit aller Härte gegen die Mafiosi vorzugehen: Er sprach 104 der
picciotti
, deren Namen auf der Liste des falschen Bosses standen, mit der wenig überzeugenden Begründung frei, dass die einzigen Beweise gegen sie »Gerüchte« seien. Ein jeder in Cirella hatte sie über den Marktplatz stolzieren sehen; ein jeder wusste, dass sie allesamt unter einer Decke steckten und nichts Gutes im Schilde führten. Anders ausgedrückt: Sie waren sichtbar. Doch selbst unter faschistischer Herrschaft zog die Sichtbarkeit allein keinen Schuldspruch nach sich.
Kampanien: Der Faschist Vito Genovese
Am 8 . Juli 1938 war in der neapolitanischen Tageszeitung
Il Mattino
der folgende kurze Beitrag zu lesen:
»
Faschistische Nachrichten
Vito Genovese, Mitglied der New Yorker Gruppierung der
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