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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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London: Abteilung für zivile Angelegenheiten.
    Zonenhandbuch Kalabrien.
    Geheim.
    Die hierin enthaltene Information wird als korrekt eingestuft, 15 . Mai 1943 .
     
    Der Kalabrese hat einen ganz eigenen Körperbau. Er ist dunkel, schnurrbärtig, klein und drahtig; in Kalabrien zählt nur der Mann. Seine Ehefrau betrachtet er als Lasttier oder Sklavin, die Mutter als Krankenschwester (…) Das in England übliche Flirten und Hofieren wird hierzulande nicht verstanden und kann das Leben kosten (…) Die rauen Naturgegebenheiten, in denen der Kalabrese lebt und arbeitet, haben ihn hart und nüchtern gemacht (…) Der Kalabrese macht nicht viele Worte, kommt stets direkt zur Sache. Er verachtet Bequemlichkeit und Luxus, die seinem eigenen Leben gänzlich fehlen, und ist unempfindlich gegen Schmerz und Leid (…) Das öffentliche Recht nach englischem Ideal versteht der Kalabrese nicht, weil er es nie erfahren hat (…) So kann man logischerweise von keinem Kalabresen, mag seine Herkunft und Bildung noch so exzellent sein, erwarten, dass er die Polizei unterstützt.
     
    Es ist nur natürlich, dass in einem Land, dessen Bewohner zu Gefühlsausbrüchen neigen, jene Verbrechen, die aus einem jähen gewalttätigen Impuls heraus begangen werden, weitaus zahlreicher sind als solche aus kühler, berechnender Bosheit. Letztere sind in Kalabrien in der Tat nahezu unbekannt.«
    Die Kämpfe in Kalabrien zwischen den Alliierten und den Deutschen waren von kurzer Dauer. Und nachdem sie vorüber waren, stationierte die AMGOT dort nur noch eine Notbelegschaft. Das Zonenhandbuch für Kalabrien enthielt keinerlei Hinweise auf eine Mafia in der Gegend. Kein Geheimdienstbericht identifizierte zwischen 1943 und 1944 die Aktivitäten organisierter Kriminalität. Nicht einmal Lord Rennell, der Anfang Oktober 1943 durch Kalabrien reiste, konnte irgendetwas Verdächtiges feststellen. Falls einer der neuen Bürgermeister, wie mit Sicherheit der Fall, mit der
Picciotteria
im Bunde war, dann hatte es niemand bemerkt. Die Ehrenwerte Gesellschaft Kalabriens ging gestärkt in die Nachkriegsära und agierte – wie eh und je – weit, weit unterhalb des Radars der öffentlichen Aufmerksamkeit.
    Der Aufstieg eines bestimmten kalabrischen Gangsterbosses lässt ungefähr erahnen, was den Alliierten verborgen blieb. Don Antonio (’Ntoni) Macrì kam 1904 in Siderno auf die Welt, dem wirtschaftlichen Zentrum der berüchtigten Gegend um Locri an der ionischen Küste. Seine Karriere begann Ende der 1920 er Jahre, als er wiederholt wegen tätlicher Übergriffe und illegalen Waffenbesitzes verhaftet wurde – das klassische Profil des Geldeintreibers. 1933 , als der Faschismus den Sieg über die Mafiaorganisationen verkündete, wurde Macrì aufgrund einer Amnestie nach fünf Jahren aus der Haft entlassen. Der zuvorkommende Gefängnisdirektor sagte, er habe sich »gut aufgeführt und fleißig gearbeitet« und es daher verdient, auf dem Weg zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermutigt zu werden. Es fand jedoch keine Wiedereingliederung statt: 1937 wurde Macrì als »Gewohnheitsverbrecher« eingestuft und als Boss einer kriminellen Vereinigung entlarvt, die bei ihren Mitgliedern als Ehrenwerte Gesellschaft bekannt war. Infolgedessen wurde er dreieinhalb Jahre in eine landwirtschaftliche Strafkolonie verbannt.
    Kaum war dieser »Gewohnheitsverbrecher« wieder auf freiem Fuß, änderte sich plötzlich auf dramatische Weise der Ton in den Berichten der Carabinieri: »Untadelig und hart arbeitend« nannten sie ihn jetzt. Don ’Ntoni war der Boss, mit dem Giuseppe Delfino in den letzten Jahren des Faschismus Tarantella getanzt hatte. Jetzt wird klar, was er im Gegenzug dafür bekommen hatte, dass er seine Männer während der Wallfahrt nach Polsi in Schach gehalten hatte.
    Im August 1944 , nachdem die Zeit der AMGOT vorbei und Kalabrien wieder in italienischer Hand war, wurde Don ’Ntoni erneut als Anführer einer kriminellen Vereinigung identifiziert und in Gewahrsam genommen. In Berichten über ihn heißt es, er habe im wertvollsten Landstrich an der ionischen Küste Schutzgelder kassiert. Ein Richter schrieb, er habe »aus purem Eigennutz den Preis von Orangen und Zitronen nach Gutdünken festgelegt«.
    Don ’Ntoni »trat die Flucht an«, doch er hatte sein Revier so gut unter Kontrolle, dass er sich dabei keinen Schritt fortbewegen musste. Im April 1946 wurde er schließlich entdeckt und im Stadtzentrum von Locri, unweit des Justizpalastes, verhaftet.

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