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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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gefällig« sein.
    Die ersten Berichte, die Polizeipräsident Carmelo Marzano aus Kalabrien an Tambroni schickte, waren das Manifest eines ehrgeizigen Mannes, der auf forsches Handeln baute. Man könne ohne Übertreibung sagen, schrieb Marzano, dass sich die Bevölkerung »buchstäblich im Würgegriff des Terrors« befinde. Die Verbrechensrate sei alarmierend hoch. Doch sehr viele Vergehen blieben im Dunkeln, weil die Menschen Angst hätten. Die Schutzgelderpressungen hätten Methode: Das Forstwesen, Kneipen und Restaurants, die Staatslotterie, der Busdienst – nichts dürfe funktionieren, ehe nicht »bestimmte Kompromisse«, wie Marzano es nannte, erzielt worden seien. Hunderte verurteilter Straftäter seien in der Provinz auf freiem Fuß, darunter 59  Mörder; diese Flüchtigen bezeugten das Unvermögen des Staates, den bestehenden Gesetzen Geltung zu verschaffen. Einer dieser Flüchtigen, der berüchtigte Angelo Macrì aus Brooklyn, sei im Stadtzentrum von Delianova auf einen Carabiniere zugegangen und habe ihm in den Kopf geschossen; sein Ansehen innerhalb der Ehrenwerten Gesellschaft sei seitdem ins Unermessliche gestiegen. Ein weiterer verurteilter Mörder auf der Flucht sei der ebenso berüchtigte Boss von Bova, Vincenzo Romeo. Romeo lebe unbehelligt in seinem Revier, habe in Anwesenheit der Bosse der Ehrenwerten Gesellschaft geheiratet, zeuge Kinder, kümmere sich um seine Geschäfte und sorge für seine zehn geliebten Hunde. Als die Carabinieri ihn holen wollten, schüttelten sämtliche Frauen in Bova ihre Laken aus den Fenstern, um ihn vor der Gefahr zu warnen.
    Noch schockierter als vom Zustand der öffentlichen Ordnung war der neue Polizeichef vom Zustand der Polizei. Entsetzt schilderte er sein Präsidium, die Questura: Das kleine, schmutzige Gebäude wirke halb verlassen; es habe keine Fensterläden, um die Sommerhitze auszusperren, und keine Geländer an den Balkonen. Während eine Stadt von vergleichbarer Größe in Nord- oder Mittelitalien neben der Questura noch über fünf oder sechs weitere Polizeireviere verfüge, gebe es in Reggio, einer Stadt, die mittlerweile eine der höchsten Verbrechensraten im Land aufweise, keine zusätzlichen Polizeistationen. Und so sei die Questura unentwegt Anlaufstelle für Bürger aus der gesamten Provinz, die lautstark ein Verbrechen melden wollten oder eine Lizenz beziehungsweise ein Zertifikat benötigten. Es gebe weder Gefängniszellen noch einen abgeschlossenen Raum, um darin Zeugen oder Informanten zu befragen. Besuche von Politikern, die sich für inhaftierte Wahlhelfer stark machten, seien an der Tagesordnung. Die Questura gleiche daher weniger einem Kommandozentrum als einem Basar.
    Viele der Männer, die nunmehr Marzanos Befehlsgewalt unterstellt waren, sahen ebenso klapprig und unbeweglich aus wie die Möbel, auf denen sie saßen. Sie hatten enge Kontakte zur Gemeinde – Freundschaften, Familienbande, Geschäftsinteressen – und schoben lieber eine ruhige Kugel, als sich aufreibenderen Pflichten zu widmen. Einer der Beamten, die im Verdacht standen, bei Kriminellen ein Auge zuzudrücken, tat noch immer Dienst, obwohl man bereits vor Jahren seine Versetzung angeordnet hatte. Das Überfallkommando – die Einheit aus Zivilbeamten, in deren Zuständigkeit im Grunde auch die Jagd nach den erwähnten 59 verurteilten Mördern fiel – bestehe nur aus 14  Männern, und weniger als die Hälfte kreuzte auch tatsächlich regelmäßig auf. Die Strafverfolgung in der Provinz entbehre selbst der grundlegendsten Hilfsmittel moderner Polizeiarbeit: Hunde, Fahrräder oder Funkgeräte, unverzichtbar für Beamte, die in der Wildnis des Aspromonte ihre Bewegungen koordinieren sollten.
    Die Wallfahrt zur Madonna von Polsi bot Polizeichef Marzano schon bald eine Gelegenheit, bei der er zeigen konnte, dass die Invasion der Marsianer, von der Innenminister Tambroni gesprochen hatte, durchaus ernst gemeint war. Die Behörden waren sich zwar bewusst, dass die Wallfahrt von der Ehrenwerten Gesellschaft als Tarnung für ihre alljährlichen Treffen missbraucht wurde, doch was genau bei diesen Treffen vor sich ging und warum, war unklar. 1954 hatte die Mafia, wie so oft in der Vergangenheit, während der Wallfahrt einige Rechnungen beglichen: Nachdem die Pilger heimgekehrt waren, hatte man unweit der Wallfahrtsstätte die Leichen zweier junger Männer gefunden, von zahlreichen Schüssen durchsiebt. In diesem Jahr hatte Marzano das Kommando, und so wurden Straßensperren

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