Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
bewahren, oder aus dunkleren Beweggründen – hatte Alvaro über die kriminelle Bruderschaft der Region Stillschweigen bewahrt. 1949 schrieb er, um das Elend der feudalen Ordnung anzuprangern, das die Hirten und Bauern noch immer ertrugen: »Zwar gab es Versuche, kriminelle Geheimbünde nach dem Vorbild der Mafia zu gründen, doch konnten diese nie Fuß fassen. Noch heute ist Kalabrien eine der sichersten Gegenden Italiens, zu jeder Zeit und in jedem noch so entlegenen Winkel.« Die stichwortartigen Notizen in Alvaros Tagebuch zeigen, dass er diese Behauptung wider besseres Wissen aufgestellt hatte:
»Boss der Marienwallfahrt (Polsi, San Luca). 1948 konnte kein Provinzboss gewählt werden, weil *** [der Name ist nicht vermerkt], der erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden war, ein ruhiges Leben bevorzugte und die Aufgabe nicht übernehmen wollte. Seit diesem Zeitpunkt ist die Ehrenwerte Gesellschaft in drei Zonen aufgeteilt: die ionische Küste, die tyrrhenische Küste und die Meerenge. Ein Gesamtoberhaupt fehlt.«
Die großen Entscheidungen der ’Ndrangheta waren demnach in San Luca, und darüber hinaus, ein offenes Geheimnis. Doch in der Öffentlichkeit bewahrte Alvaro sein Stillschweigen. 1955 änderte er allerdings seine Meinung. In einer Kolumne des
Corriere della Sera
schrieb er über die ’Ndrangheta, und Jugenderinnerungen an die ’Ndrangheta tauchen auch in seinen anderen Schriften auf. Tatsächlich trug er damit vermutlich mehr als alle anderen dazu bei, den neuen Namen im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.
Am Ende erwiesen sich Corrado Alvaros wiedergefundenes Gedächtnis und die Bezeichnung ’Ndrangheta als die einzigen dauerhaften Errungenschaften der Operation Marzano. Das Haupthindernis für längerfristige Erfolge war schlicht Minister Tambronis Weigerung, ernsthaft gegen die Politikerfreunde der ’Ndrangheta vorzugehen.
Die Dokumente aus dem Archiv des Innenministeriums gestatten uns heute einen Blick hinter die Kulissen der Operation Marzano. Sie zeigen uns, wie viele Informationen Tambronis Beamte über Politiker sammelten, die mit kalabrischen Gangstern unter einer Decke steckten. Die Invasion der Marsianer im Jahre 1955 enthüllte einige düster-komische Szenen der Arglist und deren stillschweigende Duldung.
Ein einschlägiger Fall betraf einen typischen Granden des Südens: Antonio Capua, ein Parlamentsmitglied der Liberalen, der Koalitionspartner der Christdemokraten. Was sich in Kalabrien »Liberale Partei« nannte, war in Wirklichkeit Capuas persönliche Klientel. Capua saß als Staatssekretär für Land- und Forstwirtschaft im Kabinett, Fernando Tambroni gegenüber. Da sowohl die Landwirtschaft als auch das Forstwesen als Wirtschaftsfaktoren in der Region eine große Rolle spielten, bedeutete Capuas Stellung, dass er seinen Freunden eine Menge mit Steuergeldern finanzierte Gefälligkeiten verschaffen konnte. Tambroni fand heraus, dass Capua oftmals Beamte unter vier Augen nötigte, bekannten ’Ndranghetisti Führerscheine und Waffenscheine auszustellen, und dass seine Wahlagenten vor Ort engen Umgang mit den Ganoven aus der Ehrenwerten Gesellschaft pflegten.
Capua war in Kalabrien bereits vor Beginn der Operation Marzano in die Schlagzeilen geraten. Bei einem mysteriösen Zwischenfall, der stark nach ’Ndrangheta roch, hatte eine Gruppe von Männern den Wagen seiner Frau unter Beschuss genommen, während sie im Gebirge des Aspromonte unterwegs war. Capua hatte versucht, die Geschichte zu vertuschen. Als die Presse davon Wind bekam, erschien eine entstellte, doch nicht minder beunruhigende Version, die behauptete, Capua selbst sei das Ziel des Anschlags gewesen. Ein Angriff auf das Leben eines Ministers interessierte nicht nur die Reporter vor Ort, und so berichteten bald auch überregionale Zeitungen darüber.
Als im Herbst Tambronis Marsianer landeten, untersuchte der neue Polizeichef nicht nur den Vorfall mit den Schüssen, sondern nahm auch Capuas zwielichtige Freunde unter die Lupe. Doch es sollte noch schlimmer kommen für den Politiker: Viele Leute kamen zu dem Schluss, dass es Capua gewesen sei, der wegen des Mordversuchs die Marsianer in die Region geholt hatte. Die ’Ndrangheta war derselben Meinung und fragte sich natürlich, warum ausgerechnet ihr Lieblingspolitiker ihnen so viel Ungemach bereitete. Der Staatssekretär steckte in einer Zwickmühle; auf die Polizei wirkte er wie ein Gauner und auf die ’Ndrangheta wie ein Verräter.
Am 14
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