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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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Gesichtsverlustes, der ihm drohte, falls er seine Mafiazugehörigkeit verriet und sich an die Behörden wandte, kaum zu ertragen: »Kein Mensch würde mich mehr respektieren, nicht einmal außerhalb der Gesellschaft.« Je näher der Ablauf der Frist für den Racheakt rückte, desto heftiger quälten ihn Albträume von Friedhöfen, Gespenstern und Kriegen. Am Ende traf er die unwiderrufliche Entscheidung, den Befehl zu verweigern und jene zu töten, auf deren Befehl er hätte töten sollen. Er bereitete sich auf den bevorstehenden Kampf vor, indem er alles aufschrieb, was er über die Ehrenwerte Gesellschaft wusste, und zudem eine Liste der 20  Mitglieder erstellte, die er ermorden wollte. Dann briet er sich die letzten Spiegeleier.
    Castagnas Plan war ein grotesker Schuss in den Ofen. Nur eines seiner Opfer, das letzte, war ein Mitglied der Ehrenwerten Gesellschaft. Die übrigen hatten – wenn überhaupt – nur indirekt Verbindung mit seinen eigentlichen Zielen. Dieser Amoklauf war keine großartige Geste, sondern eine Entladung angestauter Wut und Verzweiflung.
    Ein Großteil der kriminellen Bräuche, die das Ungeheuer von Presinaci in seinen Lebenserinnerungen beschrieb, sind noch heute in der ’Ndrangheta üblich. Rituale und Märchen schweißen junge Kriminelle zusammen, stiften Identität und geben ihnen die Berechtigung, die sie brauchen, um ihre Umgebungen zu tyrannisieren. Wenn die fünf Morde Serafino Castagnas uns eines lehren, dann die Tatsache, dass die Subkultur der ’Ndrangheta einen extrem starken psychischen Druck auszuüben vermag.
    Doch für Polizei und Rechtsprechung der fünfziger Jahre schien vieles in Castagnas Schilderung nur Kauderwelsch. Castagnas Bild der kalabrischen Mafia beförderte in der Tat ein sehr hartnäckiges, irreführendes Missverständnis. Selbst Menschen, die bereit waren zuzugeben, dass in Gegenden wie Kalabrien und Sizilien die Mafia existierte, waren der Überzeugung, dass sie ein Symptom der Rückständigkeit war. Damals war nicht das organisierte Verbrechen das beherrschende Thema in den öffentlichen Debatten Süditaliens, sondern die Armut. Im Süden belief sich das Durchschnittseinkommen etwa auf die Hälfte dessen, was die Menschen im Norden verdienten. 1951 ergab eine Regierungsumfrage, dass 869 000 italienische Familien zu wenig Geld besaßen, um jemals Zucker oder Fleisch zu essen; 744 000 dieser Familien lebten im Süden. Wenn sich jemand über die Mafia Gedanken machte, dann zumeist als eine Folge der Armut und des primitiven bäuerlichen Milieus, das von Aberglauben und bestialischer Gewalt geprägt war. Am Ende erregte die Geschichte des Ungeheuers von Presinaci die Gemüter nur mäßig.
     
    Die Netzwerke der Vetternwirtschaft, auch jene der Mafia, von denen viele Politiker in Süditalien profitierten, waren als Machtbasis von Natur aus instabil. Die Aktivitäten der Mafia liefen ein ums andere Mal aus dem Ruder, die Gewalt eskalierte, und loyale Anhänger der Christdemokraten protestierten. Bei solchen Gelegenheiten waren sogar Regierungen, die dem Mafiaproblem veranlagungsgemäß nur ungern ihre Aufmerksamkeit schenkten, zu einer Reaktion gezwungen. Wie sich herausstellte, war die Angelegenheit des Ungeheuers von Presinaci keineswegs ein Einzelfall. 1955 war ein sehr gewalttätiges Jahr in Kalabrien.
    Ein oder zwei Journalisten erkannten die Zeichen, die besagten, dass etwas im Argen lag. Ein Korrespondent der neapolitanischen Zeitung
Il Mattino
, der einflussreichsten christdemokratischen Tageszeitung im Süden, besuchte Kalabrien einige Wochen nach der Gefangennahme Castagnas. Er fand heraus, dass die Provinz Reggio Calabria von einer alarmierenden Verbrechenswelle überrollt wurde – zumindest wäre dergleichen in jeder anderen italienischen Region alarmierend gewesen. Auf dem Land wurden Busse und Autos entführt, von Bauern und Fabrikbesitzern Schutzgeldzahlungen erpresst und Zeugen eingeschüchtert. Dann der schockierende Fall von Francesco Cricelli, Mafioso aus San Calogero in der Provinz Catanzaro: Er wurde geköpft, weil er seinem Boss den Rasierapparat gestohlen hatte.
Il Mattino
appellierte an die Regierung, sie möge einschreiten und der Rechtsstaatlichkeit Genüge tun.
    Als diese Zeitungsberichte erschienen, richtete sich die Aufmerksamkeit aus dem Labyrinth der Korridore in den Gerichtshöfen und im Innenministerium in Rom allmählich auf die Verstöße gegen Recht und Gesetz auf dem südlichsten Zipfel des italienischen

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