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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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errichtet und Polizisten im Wald ringsum auf Patrouille geschickt. Vierzehn Männer wurden in Gewahrsam genommen. Ihre Vergehen reichten von unerlaubtem Waffenbesitz bis hin zu versuchtem Mord und Menschenraub. Marzanos direkter Vorgesetzter, der Präfekt von Reggio, telegraphierte an das Ministerium die Meldung, dass die Wallfahrt diesmal ohne Zwischenfall vonstattengegangen sei.
    Über die folgenden Tage und Wochen wurde Minister Tambroni ein ums andere Mal mit Telegrammen bombardiert, die ihn von der Gefangennahme flüchtiger Mafiosi in Kenntnis setzten. Die Polizei verhaftete zwei der Männer, die versucht hatten, den Ziegeleibesitzer Giuseppe Aloi zu erpressen, und stellte dabei zahlreiche Waffen sicher. Es gelang den Beamten sogar, einen Angestellten im Rathaus von Gioia Tauro festzunehmen, der dort für Gangster, die ihre Identität wechseln mussten, leere Personalausweise zu entwenden pflegte. Vincenzo Romeo – der flüchtige Mafioso mit den zehn Hunden – wurde verhaftet, wie (bald darauf) auch Angelo Macrì, der in sein Geburtsland Amerika geflüchtet war. Marzano begab sich sogar auf eigene Faust in den Aspromonte, im Auto und zu Fuß, und holte ganz allein einen flüchtigen Mörder aus Bova zurück.
    Fünf Wochen nachdem er in Reggio angekommen war, fühlte der übereifrige Polizeichef Marzano sich bemüßigt, einen unterwürfigen Bericht an Minister Tambroni zu schicken:
    »Die gesamte Provinz ist plötzlich wie verwandelt. Die Einwohnerschaft billigt unsere Operation. Es gab eine Flut von positiven Neuerungen, und das Vertrauen in die Autorität des Staates ist wie neu geboren. Die Bürger wissen, dass sie dies alles ausschließlich der Entschiedenheit und Entschlusskraft Eurer Exzellenz verdanken. Ohne auch nur die Spur einer rhetorischen Übertreibung kann ich Eurer Exzellenz garantieren, dass die Leute Eure Exzellenz buchstäblich auf den Schultern tragen würden, wenn Eure Exzellenz Reggio einen Besuch abstatten würden.«
    Der Öffentlichkeit schien zu gefallen, was vor sich ging; der Presse gefiel es ganz gewiss. Journalisten, die bis dato nur durch eine der häufigen Naturkatastrophen nach Kalabrien gelockt worden waren, zog es mit einem Mal zuhauf in die Region. Bemerkenswerterweise führte man jetzt in Italien, als Folge der Operation Marzano, die allererste nationale Debatte über das organisierte Verbrechen in Kalabrien. Natürlich beschrieben Journalisten eine Menge farbiger Details über die geheime Verbrechersekte namens »Mafia«, »Ehrenwerte Gesellschaft« oder »Fibbia« (Spange). Bei Gesprächen mit Einheimischen tauchte auch ein neuer Name auf: ’Ndrangheta. Der Begriff bedeutet »Mannhaftigkeit« oder »Mut« im Dialekt des südlichen Aspromonte, der griechische Wurzeln hat. Das Wort hat eine lange Geschichte, doch lässt sich nicht beweisen, dass es schon vor 1955 auf Kalabriens Ehrenwerte Gesellschaft angewendet worden war. Es ist nicht ganz klar, wer den neuen Namen zuerst gebrauchte: die ’Ndranghetisti selbst, die Kalabresen außerhalb der Organisation oder die fremden Journalisten. Wer immer es war, von nun an sollte der offizielle Name der Bruderschaft – für Mitglieder und Nichtmitglieder gleichermaßen – ’Ndrangheta lauten. Nachdem Kalabriens Mafia ein Dreivierteljahrhundert im Verborgenen gediehen war, hatte sie endlich genügend öffentliche Aufmerksamkeit, um einen eigenen Namen zu verdienen.
    Die Operation Marzano bewirkte zudem, dass einige Kalabresen ihr Gedächtnis in puncto Mafia wiederfanden. Ein denkwürdiges Beispiel war Corrado Alvaro, der bekannteste Schriftsteller der Region. Er war 1895 in San Luca zur Welt gekommen, jenem Bergdorf auf dem Aspromonte, dessen kriminelle Elemente die Sitten und Gebräuche der Ehrenwerten Gesellschaft hüteten; San Luca gilt als das Bethlehem des organisierten Verbrechens in Kalabrien. Alvaro war kein Sympathisant der ’Ndrangheta, doch als Heranwachsender kam er nicht umhin, sie zur Kenntnis zu nehmen. Die Geschichten aus seiner Jugend, die Alvaro später veröffentlichen sollte, machen deutlich, dass er eine Menge über die Ehrenwerte Gesellschaft Kalabriens wusste. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Alvaro nach Rom übersiedelt war, wurde er zum inoffiziellen Sprachrohr für die armen Leute seiner Heimat, die keine Stimme hatten, und stilisierte die geknechteten Bauern des Aspromonte zu Archetypen menschlicher Lebenskraft. Lange Zeit – entweder aus dem irrigen Bedürfnis heraus, Kalabrien vor schlechter Presse zu

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