Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
mehr als einen fairen Anteil am Gewinn. Laut Aussage eines Mafioso, der am Schmuggel beteiligt war, wurde Neapel zum »Eldorado« der Sizilianer. Tommaso Buscetta, ein ehemaliger Zigarettenschmuggler, erinnerte sich:
»Das Geschäftsvolumen des illegalen Zigarettenhandels wuchs gewaltig. In den fünfziger Jahren hielt man 500 Kisten für eine große Warensendung. Jetzt waren wir pro Schiffsladung bei 35 000 bis 40 000 Kisten angelangt.«
Der Geldstrom, der aus Sizilien über das Tyrrhenische Meer geschwappt kam, hatte auch gravierende Auswirkungen auf die sizilianische Mafia. Bis zum Jahr 1969 waren die meisten Ehrenmänner, die nach dem ersten Mafiakrieg unter Anklage gestanden hatten, nämlich wieder auf freiem Fuß und konnten dort weitermachen, wo sie infolge der Ciaculli-Bombe aufgehört hatten. Sie verschwendeten wenig Zeit, um ganz Palermo wissen zu lassen, dass sie wieder da waren. Um 19 . 45 Uhr am Abend des 10 . Dezember 1969 schossen fünf Männer in gestohlenen Polizeiuniformen die Insassen des Büros einer Baufirma im Viale Lazio mit Maschinengewehren nieder. Fünf Männer wurden getötet, darunter einer der Killer und die Zielperson: der Mafiaboss Michele Cavataio, von dem viele in der Cosa Nostra glaubten, er stecke hinter den Autobomben, die Anfang der sechziger Jahre explodiert waren. Wir wissen mittlerweile, dass die Männer, die das Blutbad im Viale Lazio angerichtet hatten, Abgesandte aus verschiedenen Mafiafamilien waren – als wollten sie demonstrieren, dass die Hinrichtung Cavataios von der gesamten Cosa Nostra abgesegnet worden war.
So nahm die sizilianische Mafia nach einer sechsjährigen Pause infolge der Ciaculli-Bombe ihr konstitutionelles Leben wieder auf. Das erste offizielle Gremium, das die Cosa Nostra schuf, war ein Triumvirat aus altgedienten Bossen, die mit der Pflicht betraut waren, die schlafenden Strukturen der Organisation in der Provinz Palermo neu zu beleben. Einer dieser Männer, und vermutlich der angesehenste, war Stefano Bontate, der »Prinz von Villagrazia« und
capo
der größten Familie in Palermo, wie schon sein Vater vor ihm. Bontate gehörte zum Mafiaadel. Der zweite war Gaetano »Tano« Badalamenti, der Boss von Cinisi, wo mit dem neuen Flughafen für Palermo eine riesige Einnahmequelle entstanden war. Badalamenti verfügte über langjährige Kontakte zur Cosa Nostra in Detroit. Der dritte im Bunde war Luciano Liggio aus Corleone.
Das Triumvirat wurde 1974 von der Kommission abgelöst, wobei der Boss aus Cinisi, Tano Badalamenti, am Kopfende der Tafel saß. Die frühere Kommission unterschied sich ein wenig von der neuen. Als sie Ende der fünfziger Jahre gegründet worden war, durfte kein Familienoberhaupt einen Sitz darin belegen, angeblich weil man einzelnen Ehrenmännern die Gelegenheit geben wollte, Beschwerden über ihre Bosse vorzubringen, ohne Schikanen befürchten zu müssen. Die Kommission dagegen, die 1974 neu belebt wurde, bestand aus den wichtigsten Bossen der Provinz Palermo. Es ist kein Zufall, dass dieses neue Gremium ausgerechnet zu einem Zeitpunkt ins Leben gerufen wurde, da der Zigarettenschmuggel in Neapel eine der Haupteinnahmequellen der Mafia war. Denn die Kommission erfüllte nicht nur die Aufgabe, die Beziehungen zwischen den Familien zu regeln, sondern betrieb obendrein einen lukrativen Tabakschmuggel.
Mafiaquellen haben uns einen bemerkenswerten Einblick in die straffe Politik des Tabakschmuggels innerhalb der Cosa Nostra in den siebziger Jahren vermittelt. Jede der beteiligten Parteien pflegte abwechselnd eine Schiffsladung entgegenzunehmen, die nach Kampanien kam: eine für die Neapolitaner, eine für jeden Mafiaclan, der in Neapel agierte, und eine als Tribut an die Kommission. Alle zwei Monate sollte das Schiff, das die Zigaretten für Palermo geladen hatte, Kurs auf Sizilien nehmen. Auf Tano Badalamenti, dem Oberhaupt der Kommission oder »Provinzrepräsentanten«, lastete die Verantwortung, die Fracht aufzuteilen: 1000 Kisten für Michele »den Papst« Greco aus Ciaculli; 1000 für die Corleoneser; 2000 für den Bontade-Clan und so weiter. In anderen Worten, jeder Boss, der genügend Ansehen besaß, um der Kommission anzugehören, und ausreichend Vermögen, um im Voraus das nötige Kapital für den Kauf der Zigaretten aufzubringen, wurde zum Stakeholder an dem von der Kommission kontrollierten Teil des Zigarettenmarktes.
Abgesehen von der »Kapitalgesellschaft« der Kommission schmuggelten viele Mafiosi eigenmächtig
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