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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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drehen und der Linie des Horizonts zu folgen –, einen der schönsten Panoramablicke auf diesem Planeten: auf die Äolischen Inseln vor der Nordküste Siziliens, die bewaldeten Hänge des kalabrischen Serre-Gebirges im Nordosten und den ruhig vor sich hin schmauchenden Gipfel des Ätna jenseits der Straße von Messina. Irgendwo in den Wäldern darunter befindet sich die Wallfahrtstätte der Muttergottes von Polsi, wo die ’Ndrangheta stets Anfang September ihre Jahresversammlung abhielt. 1969 hatten die verstärkten Polizeikontrollen die Gangster zu einem Termin- und Ortswechsel gezwungen. Damals trafen sich die Bosse der kalabrischen Unterwelt am 26 . Oktober, einem feuchten Sonntagmorgen, auf einer Waldlichtung unterhalb des Montalto-Gipfels. Doch ihre Vorsicht erwies sich als fruchtlos.
    Ein Team von 24  Polizeibeamten und Carabinieri hatte die Anzeichen, die sich aus der wochenlangen Beschattung ergeben hatten, richtig gedeutet und kam zwischen 35  Autos hervor, die unweit des Gipfels kreuz und quer am Straßenrand geparkt waren. Mit flinken, leisen Bewegungen überwältigten und knebelten die Polizisten die fünf Beobachtungsposten. Während sie tiefer in den Wald eindrangen, hörten sie Rufe und Beifall: Die Unterweltkonferenz tagte noch.
    Das Team teilte sich in zwei Gruppen auf, um die breite Lichtung zu umstellen, auf der über hundert Männer im Kreis saßen und lebhaft miteinander diskutierten. Doch jemand stieß einen Warnruf aus. Sechs Beamte traten auf die Lichtung und riefen: »Keine Bewegung! Polizei!« Die Gangster stoben in alle Richtungen auseinander, wobei sie aus Pistolen, Jagdflinten, automatischen Waffen und Maschinengewehren wild um sich schossen. Niemand wurde getroffen, und inmitten chaotischer Szenen gelang es der Polizei, 21  Männer zu verhaften. Sie stellten außerdem die Wagen, die von den flüchtenden ’Ndranghetisti im Stich gelassen worden waren, als Beweismittel sicher. Am Ende sollten 72 der geschätzten 130  Teilnehmer vor Gericht gestellt werden. Die meisten von ihnen behaupteten, sie hätten im Wald Pilze gesammelt. Einige der jüngeren Mitglieder knickten während des Verhörs ein. Einer von ihnen, ein Maurer aus Bagnara, erzählte der Polizei von seinem Initiationsritual. Er und einige andere verrieten auch in groben Zügen, was auf dem Montalto besprochen worden war.
    Was als Erstes an der Zusammenkunft auffällt, ist der Stellenwert, der dem Rituellen beigemessen wurde. So verlangte es die Tradition, dass gleich zu Beginn ein jeder aufstand und die Anwesenden im Namen seines Clans formell begrüßte. Ein wichtiger Punkt auf der Tagesordnung war das alljährliche Treffen selbst. Sollte sich die Ehrenwerte Gesellschaft nun, da sich die Polizei offenbar dafür interessierte, weiterhin jedes Jahr an der Wallfahrtstätte der Muttergottes von Polsi versammeln? Jemand schlug einen Ortswechsel vor. Und mit einem Ortswechsel sollte auch ein Namenswechsel einhergehen: Das Treffen sollte von nun an das »Aspromonte-Treffen« heißen, nicht mehr das »Polsi-Treffen«. Nach vielem Hin und Her siegten die Konservativen: Polsi würde der bevorzugte Treffpunkt bleiben, obschon das Datum geändert werden sollte, um die Behörden abzuschütteln. Als gegen die auf dem Montalto verhafteten Männer ein Verfahren eingeleitet wurde, beschrieb der Richter diese Debatte vermutlich zu Recht als »formalistisch« und »pedantisch«.
    Doch es wurden auch wichtigere Themen auf dem Gipfel diskutiert, zum Beispiel, wie man der Bedrohung seitens der Behörden begegnen solle. Die anwesenden Bosse beschwerten sich lautstark über den Aktivismus, den der Polizeichef von Reggio Calabria neuerdings an den Tag legte. Sein Verhalten verlange nach einer gemeinsamen Reaktion, einer Machtdemonstration. Diverse taktische Optionen wurden vorgeschlagen: Die einen wollten Streifenwagen in die Luft sprengen, andere dem Polizeichef selbst auflauern.
    Die Planung von Sprengstoffanschlägen gegen den gemeinsamen Feind hob vermutlich die Stimmung unter den »Pilzesammlern« ganz kolossal. Doch das Hauptthema auf dem Treffen war möglicherweise noch bedeutend explosiver: die potentielle Uneinigkeit innerhalb der ’Ndrangheta-Hierarchie. Ermittler brachten in Erfahrung, dass einer der älteren Bosse aus Taurianova, ein Haudegen namens Giuseppe Zappia, dem man den Vorsitz übertragen hatte, leidenschaftlich zur Einigkeit aufrief: »Dies hier ist nicht Mico Tripodos ’Ndrangheta! Es ist nicht ’Ntoni Macrìs

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