Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
oft in der Geschichte der Mafia setzte sich dieses Bild von den inneren Mechanismen der Mafia hauptsächlich aus vertraulichen Informationen zusammen, die nach außen gesickert waren, und basierte weniger auf offiziellen Zeugenaussagen vor Gericht. Deshalb war es als belastendes Beweismaterial vor Gericht so gut wie unbrauchbar.
Dementsprechend blieb der Richter in diesem Fall unentschieden hinsichtlich der Frage, ob die sizilianische Mafia nun existierte oder nicht. Er verwarf die Theorie, die besagte, dass die Mafia von »Normen« und »Kriterien« bestimmt war, die für alle Mitglieder gleichermaßen galten. Stattdessen stimmte er teilweise mit der Verteidigung überein, die glaubte, dass die Mafia »eine psychologische Gesinnung beziehungsweise der typische Ausdruck eines überzogenen Individualismus« sei. Allerdings war sie seiner Meinung nach noch mehr, etwas Ungesetzliches, das sich schwer definieren ließ. Also zog er den etwas vagen Schluss, die Mafia sei ein »Phänomen kollektiver Kriminalität«. Von den 114 Angeklagten wurden alle bis auf zehn mangels Beweisen wieder auf freien Fuß gesetzt.
Die Ordnungsmacht nahm sich dieses Urteil zum Vorbild. 1974 , im selben Jahr, in dem, wie wir wissen, die Kommission der Cosa Nostra neu gebildet wurde, argumentierte der Polizeichef, dass die Mafia lediglich ein loses Netzwerk aus strukturlosen lokalen Banden sei, die sich zu speziellen kriminellen Aktionen zusammenfanden und dann rasch wieder auflösten. Die Mafia
an sich
bekämpfen zu wollen, sei sinnlos, zumal sie doch Bestandteil der sizilianischen Kultur sei. »Es ist unmöglich, gegen das Phänomen Mafia vorzugehen! Wogegen soll man vorgehen? Eine Idee? Eine Mentalität?« Wie so oft in ihrer Geschichte erwies sich die Cosa Nostra als außerordentlich geschickt darin, ihre wahre Natur zu verbergen.
Marinos Bericht über das Montalto-Treffen indes vermittelte den italienischen Behörden das Bild einer streng strukturierten und ritualisierten ’Ndrangheta. Überdies hatten die Strafregister Don ’Ntoni Macrìs und Mico Tripodos eine auffällige Ähnlichkeit mit denen vieler sizilianischer Mafiabosse ihrer Generation: die gleiche Gewaltbereitschaft, die gleichen mächtigen Freunde, die gleiche seltsame Abfolge von Freisprüchen mangels Beweisen, die gleiche Fähigkeit, sich in die gewinnträchtigsten Bereiche der legalen Wirtschaft einzuschleichen. Doch niemand scheint sich gefragt zu haben, ob dieses Bild eines strukturierten und ritualisierten kriminellen Geheimbundes nicht vielleicht auch die Situation auf Sizilien widerspiegelte. Die grausame Wahrheit war, dass nichts, was im fernen Kalabrien geschah, jemals dazu angetan wäre, Italien wachzurütteln, ihm den Ernst seines Mafiaproblems begreiflich zu machen.
Doch leider konnten letztlich die Enthüllungen, die dem Montalto-Fall folgten, auch in Kalabrien nichts ändern. Sogar Richter Marino, der sich in seinen Nachforschungen als so gewissenhaft erwiesen hatte und dessen harsche Kritik an den Versäumnissen des Staates so vernichtend gewesen war, verhängte lächerlich milde Urteile gegen die Anführer der ’Ndrangheta. Italiens Gesetze gegen Mafiaorganisationen waren schwach. Zwar existierte ein Gesetz gegen »Mafiazugehörigkeit«, es zog aber nur leichte Strafen nach sich. Die meisten »Pilzesammler« kamen mit zweieinhalb Jahren Haft davon, und der überwiegenden Mehrheit wurden zwei davon erlassen. Die Bosse, die im Appell des Vorsitzenden an die Einigkeit genannt waren, einschließlich Don ’Ntoni Macrì, wurden allesamt vom Vorwurf, einer kriminellen Vereinigung anzugehören, freigesprochen: Wieder einmal fehlte es an Beweisen. Don ’Ntoni und die anderen Bosse waren auf dem Treffen zwar erwähnt, aber nicht an Ort und Stelle verhaftet worden, ob sie tatsächlich dort gewesen waren, ließ sich nicht beweisen. Mico Tripodo wurde freigesprochen, weil er zum Zeitpunkt des Treffens im Gefängnis saß. Der Richter schien an sein eigenes Gewissen zu appellieren, als er seine Argumente zu erklären versuchte:
»Dieses Argument könnte wie ein Zerrbild anmuten, in Anbetracht der Realität, die ein jeder hier unten im Süden spürt und sieht. Doch diese Realität wurde vom Strafjustizsystem in den wenigen äußerst ernsten Fällen, mit denen es befasst war, nicht erkannt.«
Der Richter war, in anderen Worten, ein Gefangener der Historie. Das wiederholte Versäumnis der Behörden, einen Präzedenzfall zu schaffen, indem sie die ’Ndrangheta exakt
Weitere Kostenlose Bücher