Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
Vom Netzwerk:
Nostra und Camorra waren vergleichsweise selten an Entführungen beteiligt. Die Cosa Nostra hatte, wie wir gesehen haben, strenge konstitutionelle Vorbehalte gegen das Verstecken von Gefangenen im eigenen Haus. Zu Beginn der siebziger Jahre planten Camorristi einige Entführungen, doch erpresserischer Menschenraub wurde kein typisches Verbrechen der Camorra. Vermutlich verfügte sie nicht über ausreichend Kolonien im Norden, die es ihr ermöglicht hätten, in ganz Italien tätig zu werden.
    Wer sich die Zeit nahm, die Verbrechensmeldungen in den kalabrischen Tageszeitungen zu lesen, der wusste, dass sich schon Ende der 1960 er Jahre in der Gegend ein bestimmtes Entführungsmuster durchgesetzt hatte. Doch die Geiseln waren damals allesamt aus der Region, die Lösegeldforderungen relativ bescheiden und die Zeiten der Gefangenschaft kurz. Dies änderte sich ab Dezember 1972 mit der Entführung von Pietro Torielli, dem Sohn eines Bankiers aus Vigevano in der Lombardei. Angeblich waren Luciano Liggio und die ’Ndrangheta daran beteiligt. Von nun an wurden Entführungen ein Geschäft auf nationaler Ebene für das organisierte Verbrechen Kalabriens.
    Es gab mehrere Gründe, warum Entführungen bei den ’Ndranghetisti so beliebt waren. Zum einen hatten sie den großen Vorteil, dass sie preisgünstig zu organisieren waren. Die Lösegelder, die sie einbrachten, dienten oft als Startkapital für investitionsintensivere Geschäfte wie das Bauwesen oder den Drogenhandel. Keine andere Mafia verfügte über ein vergleichbares Netz aus Kolonien im Norden. Auch der Aspromonte war von Vorteil. Das Bergmassiv an der Stiefelspitze der italienischen Halbinsel war lange Zeit eine verlässliche Zuflucht für flüchtige ’Ndranghetisti gewesen. Seine Klippen, Grotten und bewaldeten Schluchten erlangten als Verstecke für Entführungsopfer internationale Berühmtheit. Gefangene berichteten, sie hätten von ihren Verliesen aus immer dieselben fernen Kirchenglocken läuten hören. Eine bronzene Christusstatue am Kreuz, zwischen den Buchen und Tannen der Hochebene Zervò über Platì, wurde zu einer Art Briefkasten, wo oftmals das Lösegeld abgelegt wurde. Jahrelang hatte die Christusstatue ein großes Einschussloch in der Brust. Auf dem Aspromonte war das Schreckensreich der ’Ndrangheta so allumfassend, dass man die Geiseln endlos lange hätte festhalten können. Manch ein entlaufenes Opfer hatte sich in seiner Not an den erstbesten Passanten gewandt, dem es begegnet war, nur um augenblicklich zu seinen Entführern zurückgebracht zu werden. Die armen Bergdörfer in der Hand der ’Ndrangheta fingen an, von dem zu leben, was die Entführungen für sie abwarfen. Bovalino an der ionischen Küste besaß ein ganzes Neubauviertel, das die Einheimischen »Paul Getty« getauft hatten – nach der berühmten Geisel, deren Entführung die ’Ndrangheta als Geiselnehmer ganz nach vorn gebracht hatte.
    In den frühen Morgenstunden des 10 . Juli 1973 wurde John Paul Getty  III . – der 16 -jährige, rothaarige Hippie-Enkel des amerikanischen Ölmilliardärs Jean Paul Getty – in der Stadtmitte von Rom in ein Auto verfrachtet, mit Chloroform betäubt und verschleppt. Nach einer nervtötenden Wartezeit kam ein Brief der Entführer, aus aufgeklebten Buchstaben zusammengesetzt, die aus Zeitschriften ausgeschnitten waren: Sie forderten zehn Milliarden Lire beziehungsweise 17  Millionen Dollar. Der 81 -jährige Jean Paul Getty, ein berüchtigtermaßen menschenscheuer und geiziger Mann, ließ nicht mit sich handeln: »Ich habe 14  Enkel, und wenn ich auch nur einen Penny Lösegeld bezahle, habe ich bald 14 entführte Enkel.«
    Die Pattsituation zog sich bis zum 20 . Oktober, als die Entführer dem Jungen das rechte Ohr abschnitten, es in eine mit Einbalsamierungsflüssigkeit getränkte Mullbinde legten und in die Redaktion der römischen Tageszeitung
Il Messaggero
schickten. Das grausige Päckchen beinhaltete eine Botschaft, die besagte, dass der Rest des Jungen »in kleinen Stückchen« ankommen werde, falls das Lösegeld nicht bezahlt würde. Um die Qualen der Familie Getty noch zu steigern, wurde das Ohr durch einen Poststreik aufgehalten und kam erst mit dreiwöchiger Verspätung an. Die grausame Verstümmelung zeigte die gewünschte Wirkung: Einen Monat später wurde eine Lösegeldsumme von zwei Milliarden Lire (umgerechnet 3 200 000  Dollar) – ein Fünftel des anfangs geforderten Betrags – einem Mann mit Sturmhaube übergeben, der in

Weitere Kostenlose Bücher