Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
bewaffneten Männern blockiert. Als er aus dem Wagen geholt und in ein anderes Auto verfrachtet wurde, kam der Bus aus Trapani. Zwei Männer aus dem Entführungsteam ließen den entsetzten Fahrer anhalten und stiegen in den Bus. Stumm zeigten sie den Fahrgästen ihre Gewehre. Worte waren überflüssig: Nichts war geschehen, und niemand hatte etwas gesehen.
Die Corleoneser hatten erneut zugeschlagen und damit ihrer Verachtung für die »Region« und deren Schachzüge gegen sie Ausdruck verliehen. Außerdem hatten sie diesmal ein wahrhaft illustres Opfer erwischt. Der alte Mann im Alfa Romeo war kein anderer als der Steuereintreiber Luigi Corleo. Auf Sizilien war das Eintreiben der Steuern privatisiert worden. Seit den fünfziger Jahren hatte Nino Salvo, Corleos Schwiegersohn, das Steuereintreibungsunternehmen der Familie in eine riesige Neppmaschine verwandelt. Gemeinsam mit seinem Vetter Ignazio hatte sich Nino Salvo mittlerweile das Monopol auf die Steuern des Landes gesichert und verlangte skandalöse zehn Prozent Provision. So wanderte eine von zehn Lira, die ein Sizilianer an Steuern bezahlte, direkt in die Taschen der Salvo-Vettern. Damit nicht genug: Die Salvos konnten sogar eine zwei- bis dreimonatige Verzögerung zwischen dem Eintreiben der Steuern und dem Weiterreichen an den Staat erwirken – zwei bis drei Monate, in denen diese gewaltigen Summen angenehme Zinsen einbrachten. Der pharaonische Gewinn des legalisierten Coups der Salvos wurde in Kunstwerke (offenbar van Gogh und Matisse), Hotels, Land und das politische Unterstützungsnetz gesteckt, das gewährleisten sollte, dass die sizilianische Regionalversammlung die Steuereintreibungskonzession auch weiterhin bestätigte. Beide Salvo-Vettern waren außerdem Ehrenmänner und eng mit zwei Mitgliedern des Triumvirats befreundet: Tano Badalamenti und Stefano Bontate. Mit der Entführung Luigi Corleos hatten die Corleoneser die wirtschaftliche, politische und kriminelle Macht in Sizilien mitten ins Herz getroffen. Antonino Calderone würde später erklären, dass die Corleo-Entführung eine »äußerst ernste Angelegenheit« gewesen sei, die der Cosa Nostra »einen gewaltigen Schock« verpasst habe. Auch die Lösegeldforderung war schockierend: 20 Milliarden Lire (fast 100 Millionen Euro nach heutigem Maßstab).
Die Corleo-Entführung war für Badalamenti und Bontate erst nur peinlich gewesen, dann aber zur tiefen Demütigung geworden. Obwohl sie das Umland von Salemi mit Leichen überzogen, konnten Badalamenti und Bontate weder die Geisel befreien noch irgendeinen Beweis finden, der ihren Verdacht, dass die Corleoneser dahintersteckten, bestätigt hätte. Um allem die Krone aufzusetzen, starb der alte Corleo während seiner Geiselhaft, vermutlich infolge eines Herzinfarkts. Badalamenti und Bontate jedoch fanden nicht einmal die Leiche.
Die Corleoneser steckten zwar nicht das erhoffte Lösegeld ein, gewannen jedoch etwas, das sich langfristig als ungleich kostbarer erweisen sollte: den weithin sichtbaren Beweis, dass Badalamenti und Bontate in ihrem Territorium nicht einmal ansatzweise die Kontrolle innehatten. Die Corleoneser konnten sich ungestraft über die Gesetzgeber der Cosa Nostra hinwegsetzen. Andere Mafiabosse auf Sizilien hörten die Gerüchte und zogen ihre Schlüsse.
Die kurze Serie spektakulärer Entführungen auf Sizilien deckte sich mit einer wichtigeren Entwicklung: eine neue Führungsriege übernahm in Corleone die Kontrolle. Luciano Liggio wurde nach und nach von seinem Stellvertreter Totò Riina kaltgestellt, der in Bernardo Provenzano einen tüchtigen Handlanger hatte. Es war Riina, der die Cassina- und Corleo-Entführungen geplant hatte.
Unterdessen war Liggio noch immer sehr aktiv, allerdings dort, wo das Entführungsverbot der Cosa Nostra keine Gültigkeit hatte. Im Juli 1971 zog er nach Mailand, wo er in beliebiger Zahl Leute kidnappen konnte. Außerdem waren in Mailand viel mehr Reiche verfügbar. Entführungen auf Sizilien waren eher politisch bedeutsam als lukrativ und daher auch weniger häufig. Zwischen 1960 und 1978 gab es auf Sizilien nur 19 Entführungen, ein sehr geringer Anteil an den erschreckenden 329 in ganz Italien. Innerhalb der Cosa Nostra ging das Gerücht, dass Liggio mit Entführungen auf dem Festland zu sagenhaftem Reichtum gelangt war, weil er sich mit denjenigen zusammengetan hatte, die sich bald als die Entführungsspezialisten der italienischen Unterwelt erwiesen: der ’Ndrangheta.
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