Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Gutachten zu besorgen, die ihm jegliche Verantwortung für sein Tun absprachen. »Wenn er kriminelle Handlungen begeht«, lautete eine Diagnose, »steht Cutolo unter dem Einfluss einer typischen, impulsiv-aggressiven Krise, die vollständig von ihm Besitz ergreift und seinen Willen lähmt.« In anderen Worten: Er gerät häufig in Zorn und lässt Leute umbringen – aber es ist nicht seine Schuld. Der NCO -Boss verglich sich mit Christus und behauptete, er könne Gedanken lesen. Unklar ist, ob er dergleichen tatsächlich glaubte oder einfach nur die Diagnose der Psychiater auslebte.
Wie auch immer es um Cutolos geistiges Gleichgewicht bestellt war, 1980 beschloss er jedenfalls, seine Macht mit einem Bauwerk zur Schau zu stellen. Über der Stadt Ottaviano, an den nordöstlichen Hängen des Vesuvs, wo der NCO -Boss aufgewachsen war, stand der baufällige Palazzo der Medici; er hatte Räume für jeden Tag des Jahres. Cutolo kaufte ihn über eine Tarnfirma und machte ihn zur Hochburg seiner Organisation und zum grandiosen Symbol einer schnellen, brutalen und erfolgreichen kriminellen Karriere, die beispiellos war in den Annalen des organisierten Verbrechens in Italien. Und das Erstaunlichste daran ist, dass Raffaele Cutolo fast alles vom Gefängnis aus bewerkstelligte.
1963 , im Alter von 21 Jahren, war Cutolo zu 24 Jahren Haft verurteilt worden, weil er aus purer Bösartigkeit einen Mann erschossen hatte. Zeitungsberichten zufolge war Cutolo auf der Hauptverkehrsstraße in Ottaviano zunächst absichtlich auf vier junge Frauen zugerast und hatte den Wagen erst in letzter Minute abgebremst. Als eine der Frauen Cutolo zur Rede stellte wegen des dummen Kraftakts, prügelte er auf sie ein. Ein vorüberfahrender Feuerwehrmann kam der Frau zu Hilfe. Da zog Cutolo eine Beretta 7 . 65 aus der Tasche und gab zwei Schüsse auf ihn ab. Doch was den Richter am meisten entrüstete, war die Art und Weise, wie Cutolo den Verletzten verfolgte, der sich taumelnd in einen Torweg geflüchtet hatte. Der Ganove leerte das gesamte Magazin in den Unglücklichen, der im Krankenhaus starb. Der Mann hinterließ eine Frau und drei Kinder.
1970 , während das Urteil des Obersten Gerichtshofs ausstand, kam Cutolo frei und konnte flüchten. Er wurde zu einem Unterboss der Camorra, erpresste Schutzgeld und handelte mit Kokain. Nach einer Schießerei mit den Carabinieri im März des darauffolgenden Jahres wurde er erneut festgenommen und in die verrufene Strafvollzugsanstalt Poggioreale gesteckt. Dort ging er an die Planung der Organisation, die als NCO von sich reden machte. 1974 trug er bereits den Beinamen »König von Poggioreale« und war Mitglied eines größeren Drogenrings mit ranghohen Mafiosi aus Sizilien und Kalabrien. 1977 besaß er ausreichend Macht, um sich in die gemütlichere Umgebung der staatlichen Nervenheilanstalt in Aversa verlegen zu lassen, nicht weit von Neapel. Im Februar 1978 sprengten seine Männer mit TNT ein Loch in die Mauer, und er kletterte über den Schutt in die Freiheit. Einer glaubhaften Theorie zufolge war der Ausbruch nur inszeniert worden, um dem Personal die Peinlichkeit zu ersparen, dass Cutolo das Gebäude kurzerhand durch den Haupteingang verließ – was er vermutlich hätte tun können. Wie dem auch sei, der Flüchtige blieb 15 Monate von der Bildfläche verschwunden. 1981 besagte ein Urteil des Berufungsgerichts, dass ihm aufgrund seiner psychischen Störung die Flucht nicht zur Last gelegt werden konnte. Cutolo selbst sagte: »Ich bin nicht ›geflüchtet‹. Ich bin gegangen. Wenn auch ein wenig geräuschvoll.«
Nach seiner erneuten Festnahme kam Cutolo nicht mehr frei. So hatte er, abgesehen von zwei kürzeren Zeitspannen auf der Flucht, sein gesamtes Erwachsenenleben hinter Gittern zugebracht. Allerdings begriff er schnell, dass das Gefängnis die perfekte Basis für ein kriminelles Imperium war. Wer das Gefängnissystem beherrschte, der beherrschte die Unterwelt. Die Haft ist ein Berufsrisiko für Kriminelle. Und wenn sie mit der Angst ins Gefängnis gehen müssen, unter der Dusche vergewaltigt oder im Innenhof erstochen zu werden, sind sie äußerst angreifbar.
Cutolo perfektionierte gewissermaßen die Methoden, die schon im frühen 19 . Jahrhundert von der Gefängnis-Camorra angewandt worden waren. Zunächst bot die NCO verängstigten Jugendlichen, die zum ersten Mal eine Strafe im Erwachsenenknast absitzen mussten, die Sicherheit der Gruppe. Cutolo spezialisierte sich darin, einzelne
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