Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Jugendliche unter seine Fittiche zu nehmen, die keiner Gang angehörten. Einer seiner Mithäftlinge im Poggioreale beschrieb ihn als eine Art »Talentscout«. Sobald die jungen Männer wieder frei waren, gaben sie einen Teil ihrer Einnahmen an Cutolo ab, damit er andere Gefangene unterstützen konnte, indem er Bargeld und Lebensmittel an deren Angehörige schickte, Wachleute und Verwaltungsbeamte bestach und sich um Verlegungen, Anwälte oder Arztbesuche kümmerte. So begann der Kreislauf von Abgaben und Gefälligkeiten, der die NCO zusammenschweißte. Cutolos Organisation dehnte ihren Einfluss im Poggioreale auf viele andere Gefängnisse in Italien aus und hatte genügend treue Unterstützer außerhalb der Gefängnisse, um Verbrechen im großen Stil zu planen.
Die NCO interessierte sich für alle möglichen Geschäfte: Sie handelte mit Drogen, klaute Lastwagen, betrog die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft um landwirtschaftliche Subventionen und ergatterte staatliche Bauprojekte. Doch auch für die NCO – wie für die sizilianische Mafia und die alte Camorra – war die Erpressung die größte Quelle ihrer Macht. Cutolos Schutzgelder wurden von zuverlässigen Leutnants eingetrieben, einschließlich seiner großen Schwester Rosetta. Sie wirkte auf jedermann wie die ältliche Stickmamsell, als die sie ihr Bruder beschrieb. Doch dies war nur Tarnung, weil es innerhalb der NCO Männer gab, die ungern die Befehle einer Frau ausführten. Viele Beobachter halten Rosetta für einen der mächtigsten weiblichen Bosse der Camorra. Mit Hilfe des Geldes, das sie ihrem Bruder schickte, konnte dieser seine Haftstrafe in märchenhaftem Luxus genießen: Innerhalb eines guten Jahres, 1981 / 82 , erhielt er fast 56 Millionen Lire ( 2011 entspräche diese Summe etwa 100 000 Euro), um seine täglichen Ausgaben zu decken; angeblich verbrauchte er über die Hälfte des Geldes für Nahrung und Kleidung.
Cutolos aufwendiger Lebensstil sollte seine Macht demonstrieren. Das galt auch für die durchsichtige Ironie, die er bei Interviews an den Tag legte. Während des Gerichtsverfahrens nach seiner Flucht aus der Nervenklinik in Aversa gab Cutolo aus dem Stegreif eine Pressekonferenz. Filmrollen, die von damals überlebt haben, zeigen ihn gepflegt, mit einem Gesicht, das sowohl verschlagen als auch selbstzufrieden aussieht. Hinter den Gitterstäben seines Käfigs sieht man ihn wiederholt von einem Fuß auf den anderen treten und schnelle, schmunzelnde Blicke nach allen Seiten werfen – wie ein Schuljunge, der Schelte einsteckt und sich des Beifalls seiner Klassenkameraden versichert.
»Ich bin jemand, der gegen die Ungerechtigkeit kämpft. Genau wie meine Freunde.«
»Ein Robin Hood sozusagen?«
»Sozusagen.«
»Und was ist mit der Nuova Camorra Organizzata, der NCO ?«
»Keine Ahnung. Vielleicht steht NCO für
Non Conosco Nessuno
.« (Ich kenne niemanden.)
»Haben Sie im Gefängnis das Sagen?«
Cutolo spielt den Verwunderten, mit einem nicht sehr überzeugenden Keckern. »Nicht doch, hier hat der Gefängnisdirektor das Sagen.« (…)
»Und wie steht es um den Mord an seinem Stellvertreter? Sie hatten ihn verprügelt und gedroht, ihn umzubringen.«
»Das ist wahr. Weil er sich ein paar wirklich …« Cutolos Stimme wird ölig weich. »Aber jetzt ist er tot. Man soll nichts Schlechtes sagen über die Toten … Wie dem auch sei, ich bin vielleicht wahnsinnig, aber nicht von der blöden Sorte, sondern von der schlauen. Also werde ich wohl kaum jemanden verprügeln, ihm drohen und ihn dann umbringen. Ich sammle doch keine lebenslänglichen Haftstrafen.«
Sogar unter Gewohnheitsverbrechern haben wenige einen so widerwärtigen Charakter wie Raffaele Cutolo. Sein wohl auffälligster Zug als Boss war die Bewunderung, die man ihm zollte. Die
Nuova Camorra Organizzata
basierte auf einem Persönlichkeitskult und einer ideologischen Leidenschaft, die keine andere Mafia in Italien jemals erreicht hat. Auf dem Höhepunkt seiner Macht hatte Cutolo zahllose Anhänger, die mit Freuden für ihn gestorben wären. Worin bestand das Geheimnis seines Charismas? Zum einen besaß er ein ausgezeichnetes Organisationstalent und nutzte es, um die NCO mit einer wohldurchdachten inneren Struktur auszustatten. Ihre Rekruten hatten ein starkes Zugehörigkeitsgefühl und die Gewissheit, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen. Und um diesen Korpsgeist aufzubauen, übernahm Cutolo Rituale und Begriffe von der kalabrischen Mafia. Es ist so gut wie
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