Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
der Provinz Agrigent stammte. Die beiden sprachen eine gemeinsame Sprache. Einen Jargon, den die kanadische Polizei – trotz des Lärms aus Gesprächen im Hintergrund, Geschirrklappern und dem Rauschen und Knistern eines Abhörmikrophons – aufzeichnen konnte.
Violi begann mit Freundlichkeiten: »Hattest du eine schöne Reise? Lass mich dich küssen.«
Pino Cuffaro konnte es kaum erwarten, seine Neuigkeiten aus Sizilien an den Mann zu bringen: »Also Paolo, bevor du den Cappuccino trinkst, habe ich eine Überraschung für dich, eine feine Überraschung, die uns allen am Herzen liegt … Carmelo ist zum Repräsentanten in unserem Dorf ernannt worden.«
Dann erfolgte, unterbrochen von schlückchenweisem Kaffeegenuss, ein langer Bericht über die jüngsten Beförderungen innerhalb der Cosa Nostra im fernen Agrigent. Man erfuhr, wer Provinzboss war, wer die
capimandamenti
(Bezirksbosse), wer die
consiglieri
und welche Personen neu eingeweiht worden waren. Man diskutierte über den Zustand der Cosa Nostra auf Sizilien und stellte fest, dass die Palermer Kommission noch immer außer Kraft gesetzt war. Und es fielen die Namen gemeinsamer Freunde: unter anderem Don ’Ntoni Macrì – der ’Ndrangheta-Boss aus Siderno, der auch Mitglied der Cosa Nostra war (und, was keiner ahnte, wenige Monate später sein letztes Boccia-Spiel genießen würde).
Doch Pino Cuffaro war nicht den ganzen Weg nach Quebec gekommen, nur um seine kanadischen Freunde über die Ereignisse in der alten Heimat auf dem Laufenden zu halten. Er war gekommen, um ein heikles Problem diplomatischer Etikette zu lösen. Galt ein Ehrenmann aus Sizilien, der den Atlantik überquerte, auch als vollwertiges Mitglied der Cosa Nostra in der Neuen Welt? Dahinter verbarg sich die strittige Frage, ob die Cosa Nostra diesseits und jenseits des Atlantiks eine einzige Bruderschaft war oder ob die amerikanische und die sizilianische Organisation zwei getrennte Einheiten waren. Die Positionen waren so verhärtet, und die Diskussion darüber so angespannt, dass die Männer sich ein zweites Mal treffen mussten.
Paolo Violi, der kanadische Gangster, stimmte für eine Fünf-Jahres-Regel: Jeder Sizilianer, der in Kanada ankam, sollte fünf Jahre geprüft werden, ehe man ihn als vollwertiges Mitglied akzeptierte. Der sizilianische Gast sah keine Grenzen zwischen Sizilien und der Neuen Welt.
Wer hatte recht? Im Grunde ohne Belang. In der Welt der Mafia sind Regeln zwar wichtig, aber auch biegsam: Mafiosi neigen wie wir alle dazu, die Regeln zu ihren Gunsten auszulegen. Sogar eine Vorschrift, die so essentiell war wie das Verhältnis zwischen dem amerikanischen und dem sizilianischen Zweig der Cosa Nostra, war nicht für alle Zeit zementiert.
Es ist bezeichnend, dass Paolo Violi, der Barbetreiber, der so eisern auf der Fünf-Jahres-Regel beharrte, tatsächlich ein lebendes Beispiel für die Biegsamkeit der Regel war. Er war nämlich Kalabrese. Seine Bar hieß
Reggio
– nach der Geburtsstadt der ’Ndrangheta in Südkalabrien. Wie viele junge Ganoven aus Kalabrien, die in größere Zentren des organisierten Verbrechens in Amerika ausgewandert waren, machte Violi nicht etwa in der ’Ndrangheta Karriere, sondern in der amerikanischen Cosa Nostra. Es war Amerika, das den Weg bereitete für eine engere Verbindung zwischen der kalabrischen und der sizilianischen Mafia. Und dort überdauerte diese Verbindung. Doch obwohl die amerikanische Mafia Neuankömmlinge, auch solche aus Kalabrien, lange Zeit mit offenen Armen empfangen hatte, beharrte der kalabrische Einwanderer Paolo im Frühjahr 1974 eisern auf der Regel, die besagte, dass sizilianische Mafiosi fünf Jahre unter Beobachtung bleiben mussten, ehe sie als vollberechtigte Mitglieder der amerikanischen Cosa Nostra gelten konnten.
Ob Violis Position verfassungsgemäß richtig oder falsch war, sei dahingestellt, weit wichtiger ist die Frage,
warum
er so argumentierte – welchen nackten Eigennutz er mit seiner Regel zu kaschieren suchte.
Als das Treffen in der Eisbar stattfand, war die Mafia bereits damit beschäftigt, sich infolge des Zusammenbruchs der
French Connection
intensiver im Heroingeschäft mit Amerika zu engagieren. Violi war ein bodenständiger Boss, kein Drogendealer. Und so fühlte er sich von diesem äußerst lukrativen, gebietsübergreifenden Geschäft bedroht, das er nicht gänzlich unter Kontrolle hatte. In Quebec waren es vor allem die Cuntreras und Caruanas, die Violi Kummer bereiteten: zwei
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