Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
hatte, machte ebendiese Ehrenschuld Romano zum idealen Kandidaten. So wurde er Chef der Polizei – die härteste Aufgabe von allen.
Bereits wenige Stunden, nachdem er sein Amt angetreten hatte, rief Romano eine der kühnsten Initiativen in der Geschichte des Polizeiwesens ins Leben: Er bot der Camorra die Gelegenheit, »sich selbst zu rehabilitieren« (seine Worte), indem sie die Polizei ersetzte. Die Bosse der ehrenwerten Gesellschaft nahmen das Angebot mit Freuden an, und schon bald sah man Camorristi durch die Straßen patrouillieren, die stolz ihre Kokarden in den italienischen Farben Rot, Weiß und Grün trugen. Neapel blieb ruhig, und Liborio Romano wurde als Held gefeiert. Der piemontesische Botschafter schwärmte, Romano werde »von der Öffentlichkeit innig geliebt und hege überaus italienische Gefühle«. Die
Times
nannte Romano einen Staatsmann, »der sich dank seiner Fähigkeiten und Charakterfestigkeit das Vertrauen aller erworben« habe, und fügte hinzu, die Stadt wäre ohne ihn längst im Chaos versunken. Am 23 . Juli wurde sein Namenstag mit öffentlicher Festbeleuchtung und einer von Laternen begleiteten Parade gefeiert. In der Tat war Romanos Strategie so erfolgreich, dass viele Camorristi anschließend in eine neue Nationalgarde rekrutiert wurden. Der gefahrenreiche Sommer zwischen dem bröckelnden Bourbonenregime und der Ankunft Garibaldis verstrich friedlicher, als irgendjemand es sich hätte träumen lassen.
Die außergewöhnliche Rolle der Camorra im Neapel-Drama machte auch in Turin die Runde, der Hauptstadt des jungen italienischen Staates. Eine Zeitschrift sah sich aus gegebenem Anlass sogar bemüßigt, geschmeichelte Bilder dreier führender Camorrabosse zu veröffentlichen. Einen davon, Salvatore De Crescenzo, sollten wir uns genauer ansehen.
Auf der Radierung des Jahres 1860 trägt De Crescenzo eine Trikolore, seine Rechte ruht in napoleonischer Manier in der Knopfleiste seines Rocks, das Haar ist sauber gescheitelt, und seine ernsthafte Miene wird umrahmt von einem krausen Kinnriemenbart. Nach einem Blick in De Crescenzos Polizeiakte dürfen wir diese Eindrücke um einige Fakten ergänzen. Wir lesen, dass er ein gelernter Schuster war, vermutlich 1822 geboren. Er war ausgesprochen gewalttätig, hatte zum ersten Mal 1849 im Gefängnis gesessen, weil er einen Matrosen schwer verletzt hatte, und stand noch im selben Jahr im Verdacht, einen Mithäftling getötet zu haben. In den 1850 er Jahren wanderte er immer wieder ins Gefängnis, wobei die letzte Verhaftung, ehe sein Bild durch die Presse ging, im November 1859 erfolgte. Ungeachtet dieses furchteinflößenden Lebenslaufs erklärte das Turiner Magazin, De Crescenzo und die anderen Camorristi seien inzwischen »ehrbar geworden, Männer, die sowohl bei den Befürwortern der nationalen Sache wie auch beim Volke in hohem Ansehen« stünden.
Im Süden wirkte Garibaldi gerade Wunder, indem er mit einer Handvoll Freischärler ein ganzes Königreich eroberte. In Neapel hatten einige Beobachter gar den Eindruck, das Wunder sei schon geschehen, ehe Garibaldi überhaupt eingetroffen sei. Die Camorra war geläutert, bekehrt im Namen der heiligen
Patria
.
Doch im Schatten, wo Politik, Bandengewalt und organisiertes Verbrechen sich überlappen, war kein Wunder geschehen, die Camorra nicht bekehrt worden. Die Wahrheit – zumindest Fragmente davon – sollte erst später ans Licht kommen. Über viele dieser Fragmente verfügte einer der sympathischeren Charaktere in der Geschichte des organisierten Verbrechens in Italien, ein kurzsichtiger, bärtiger Schweizer Hotelier mit Namen Marc Monnier.
Monnier war weder im Gefängnis gewesen noch hatte er je ein politisches Amt bekleidet. Doch dank seines Metiers kannte er die Camorra so gut wie kein anderer in Neapel: Er führte das Hôtel de Genève, das sich inmitten der lärmenden Via Medina befand. Das Hotel beherbergte hauptsächlich Personen, die sich von Berufs wegen in Neapel aufhielten; Herman Melville, der Autor von
Moby Dick
, war einer der wenigen namhaften Gäste. Das Familienunternehmen brachte Monnier täglich in Kontakt mit der Territorialherrschaft der Camorra: mit den Pförtnern, Kutschern, Krämern und Metzgern, die dem Gesindel Schutzgeld zahlten. Von den Fenstern seines Hotels aus konnte Monnier zusehen, wie Ganoven sich von den Glücksspielern auf der Straße ihre zehn Prozent holten.
Das Hotelgewerbe verschaffte Marc Monnier ein unbezahlbares Wissen über die Funktionsweise der
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