Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Innenleben der Gesellschaft, ihre Rituale, ihre Regeln und ihre Gesinnung. Er nannte Täter, die zahllose Morde auf dem Kerbholz hatten, und erläuterte, was noch wichtiger war, wie sich diese Morde in das strategische Denken der Bosse fügten, die sie in Auftrag gegeben hatten. Endlich ergab die gesamte Geschichte von Totò Riinas Machtergreifung in der sizilianischen Unterwelt einen Sinn. Die sizilianische Mafia war mitnichten ein wüster Haufen einzelner Gangs. Sie war die Cosa Nostra: eine homogene, hierarchisch strukturierte Organisation, die einen blutigen internen Konflikt erlebt hatte.
Bis jetzt hatten Falcone und seine Kollegen die sizilianische Mafia von außen betrachtet. Es war, als versuchten sie den Grundriss eines Gebäudes zu erstellen, indem sie durch das Schlüsselloch spähten. »Buscetta öffnete uns die Tür und veränderte damit alles«, würde Caponetto sich später erinnern. Falcone empfand Buscetta »wie einen Sprachenlehrer, der es einem ermöglicht, in die Türkei zu reisen, ohne dass man mit Händen und Füßen kommunizieren muss«. Buscettas Beispiel folgend, brachen auch andere Reuige ihr Schweigen. Der wichtigste von ihnen war Totuccio Contorno, der Soldat aus Stefano Bontates Familie, der einen Kalaschnikow-Angriff in Brancaccio knapp überlebt hatte.
Das Antimafia-Team hielt Buscettas Mitarbeit monatelang geheim. Am 29 . September 1984 , dem Tag des Erzengels Michael, konnte das Geheimnis nicht länger gehütet werden. Im Morgengrauen wurde gegen 366 Mafiosi Haftbefehl erteilt: Die Aktion wurde als
blitz di San Michele
(Blitzaktion vom Michaelstag) bekannt. Der Polizei gingen die Handschellen aus. Und als ihre Arbeit für diesen Tag erledigt war, hielt der Antimafia-Pool eine Pressekonferenz ab, um der Welt mitzuteilen, dass das
System Mafia
bald vor Gericht stehen würde. Indem sie sich ein Wort auslieh, das die massive Verfolgung der
Nuova Camorra Organizzata
in Neapel bezeichnet hatte, sprach die Presse vom bevorstehenden »Mammutprozess« in Palermo. In den Straßen, wo Dialekt gesprochen wurde, hieß er schlicht
’u maxi
. Und Hauptgegenstand im »Maxi« wäre Buscettas Behauptung – geringschätzig als »Buscetta-Theorem« abgestempelt –, dass die Cosa Nostra eine homogene, hierarchisch strukturierte Organisation war.
Der Boss zweier Welten war sich durchaus der historischen Tragweite des Prozesses bewusst, der um seine Zeugenaussage herum vorbereitet wurde. Ein Sinn für seine eigene historische Mission war vermutlich Teil der Motivmischung, die ihn dazu brachte, sich an Giovanni Falcone zu wenden.
Als bekanntwurde, dass Tommaso Buscetta den Ermittlern half, gingen viele Kommentatoren zunächst davon aus, dass er der erste sizilianische Mafioso sei, der gegen das Gesetz der Omertà verstieß. Wir wissen mittlerweile mehr als genug über die Geschichte der Mafia, um sagen zu können, dass sizilianische Mafiosi schon immer geredet haben. Sieger wie Verlierer im permanenten Kampf der sizilianischen Unterwelt um die Vorherrschaft haben über die Jahrzehnte gegen die Omertà verstoßen.
Die Sieger redeten als Teil eines Bündnisses mit der Polizei: Sie gaben Informationen über ihre kriminellen Konkurrenten preis und erhielten im Gegenzug Straffreiheit zugesichert. In Bodennähe garantierte dieses Arrangement dem Polizisten oder Carabiniere, der ostentativ Arm in Arm mit dem örtlichen Boss über die Piazza schlenderte, ein ruhiges Leben. Die sizilianische Mafia spezialisierte sich auf eine höhere Bündnisebene mit den Behörden: Immer wenn die Mafia damit drohte, Sizilien unregierbar zu machen, wurde es zur offiziellen Strategie, Mafiosi als Hilfssheriffs einzusetzen.
Die Verlierer innerhalb der Mafias haben aus einem nicht minder schmutzigen Grund gegen die Omertà verstoßen: Rache. Von ihren mächtigen Freunden im Stich gelassen und von ihren Mafiarivalen überwältigt und übertölpelt, missbrauchten sie die Polizei als Instrument der Rache, zumal ihnen kein anderes Instrument geblieben war.
Tommaso Buscetta war, wie Generationen von Mafiosi vor ihm, die das Gesetz der Omertà gebrochen hatten, ein Verlierer. Er gehörte dem Transatlantischen Syndikat an, das für den Drogenhandel zwischen Sizilien und den USA verantwortlich war. Aus diesem Grund entfachte er die Wut der Corleoneser sowohl vor als auch nach seiner Entscheidung, mit Giovanni Falcone zu sprechen: Zwischen 1982 und 1984 wurden nicht weniger als neun Mitglieder seiner Familie getötet,
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