Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Palermer Überfallkommandos und zwei weitere hochrangige Polizeibeamte aus dem Dienst. Dasselbe Ministerium, das monatelang herumgedruckst hatte, ob die veralteten Computer des Palermer Antimafia-Pools zu ersetzen seien, hatte sich von der Entrüstung über Marinos Tod zu einer absurd überstürzten Reaktion hinreißen lassen.
Am darauffolgenden Nachmittag kam Ninni Cassarà früher nach Hause als üblich. Er wurde von mehreren Mafiakillern erwartet, die im Wohnblock gegenüber auf zwei Positionen Stellung bezogen hatten. Aus drei Kalaschnikows und diversen anderen Waffen wurden 200 Schüsse auf ihn abgegeben. Cassaràs Frau, die mit den drei kleinen Kindern zu Hause auf ihn gewartet hatte, beobachtete den Hinterhalt von ihrem Fenster aus. Mit Cassarà starb auch Roberto Antiochia, ein 23 -jähriger Römer, der nach dem Mord an Montana früher aus dem Urlaub zurückgekehrt war, um seinem Kommandanten den Rücken zu stärken.
Mafia und Politik hatten das Überfallkommando außer Gefecht gesetzt und damit den rechten Arm des Antimafia-Teams abgeschnitten. Die überlebenden Mitglieder des Überfallkommandos konnten ihre Wut kaum verbergen. Weil sie Antiochia nicht feierlich aufgebahrt im Polizeipräsidium liegen lassen wollten, entführten sie seinen Sarg, mitsamt den Messingpfosten und der Absperrkette, die ihn umgab, und trugen ihn in den Lichthof ihres Hauptquartiers, 50 Meter weiter. Der Innenminister musste vor den Kollegen der Toten beschützt werden, als er nach Palermo zu ihrer Beerdigung anreiste. Es kam zu einem Handgemenge auf der Straße mit Männern aus anderen Polizeieinheiten. Erneut ließ sich die Regierung aus Panik zu einer unangemessenen Reaktion hinreißen und entsandte 800 ungeschulte Polizisten und Carabinieri auf die Insel, die weitgehend symbolische Straßensperren errichteten.
Die Mitglieder des Überfallkommandos hatten, genau wie die Richter im Antimafia-Team, gute Gründe, sich nicht nur isoliert, sondern verunglimpft zu fühlen. In den regionalen und überregionalen Medien konnten Mafiafreunde oder nur einfallslose Journalisten auf der Suche nach einer polemischen Schlagzeile die Besorgnis erregende Isolation, in der die Mafiagegner arbeiteten, ohne weiteres ins Gegenteil verkehren: Die Männer und Frauen, die an vorderster Front gegen die Mafia kämpften, waren allesamt Egomanen, einsame Spinner oder schießwütige Sheriffs. Nach Cassaràs Tod wetterte Vittorio Nisticò, ein Veteran des kämpferischen Antimafia-Journalismus auf Sizilien, gegen mehrere verantwortungslose Polizeireporter:
»Ihr habt Cassarà gekannt. Und ihr habt verstanden. Euer Fehler war, dass ihr ihn, als er noch lebte, nicht als den dargestellt habt, der er war: ein moderner Held. Es wäre eine Möglichkeit gewesen, ihn zu schützen. Jetzt ist es zu spät, seine Geschichte zu erzählen.«
Während all dieser Ereignisse waren zwei weitere moderne Helden, Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, fieberhaft damit beschäftigt, die Anklageschrift für den Mammutprozess vorzubereiten – ein Dokument, das am Ende 8607 klar formulierte Seiten umfassen würde. (Wie damals üblich im italienischen Rechtssystem sollte die Aufgabe, den Fall vor Gericht zu erörtern, anderen zukommen.) Zwei Wochen nach dem Anschlag auf Cassarà wurden Falcone und Borsellino mitsamt ihren Familien auf eine Gefängnisinsel in Sicherheit gebracht, damit sie ihre Mammutaufgabe zu Ende bringen konnten. Wie der Zufall es wollte, landeten sie ausgerechnet auf der Insel Asinara, vor der Nordküste Sardiniens, im selben Hochsicherheitsgefängnis, in dem Raffaele der »Professor« Cutolo mittlerweile einsaß. Ausnahmsweise sorgte die Isolation der Antimafia-Richter in diesem Fall für ihren Schutz.
Die Hauptstadt der Antimafia
Palermos Ucciardone-Gefängnis ist ein Denkmal für zerschlagene Reformträume. Das viktorianische Backsteingebäude, dessen zahlreiche Ecken jeweils mit einem mächtigen Turm bestückt sind, dräut in der einst ländlichen Umgebung unweit des Hafens. Doch sein bedrohliches Aussehen gibt keinerlei Hinweis auf die aufgeklärten Hoffnungen, die seinen Bau inspirierten. Es wurde in den 1830 er Jahren entworfen, nach den Richtlinien des großen britischen Philosophen Jeremy Bentham. Nie mehr sollten Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Verurteilte und jene, die noch auf ihren Prozess warteten, Mörder und kleine Diebe im verseuchten Durcheinander großer Verliese zusammengepfercht werden. Im neuen Gefängnis würden die
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