Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
eine ihrer Äußerungen möglicherweise den Ausgang der Geschworenenentscheidung beeinflussen könnte, mag allein das Getöse um einen prominenten Fall in Italien verstörend wirken. Lange vor den entscheidenden Anhörungen ist ein Großteil der Beweismittel, die von den Anwälten beider Parteien herangezogen werden, für jedermann verfügbar und wird von jedermann diskutiert. Zeugen und Angeklagte geben ausführliche Interviews. Vielfach laufen Medienermittlungen parallel zum offiziellen Gerichtsverfahren. Es bilden sich gegensätzliche Lager, die der
colpevolisti
und die der
innocentisti
(Erstere plädieren für schuldig, Letztere für unschuldig). Das tatsächliche Urteil genügt häufig nicht, um die festgefügtesten Meinungen zu dem Fall zu verrücken: Es bleibt nur eine Ansicht unter vielen.
Das wichtigste Argument der Befürworter des italienischen Systems ist, dass jede Phase eines Verfahrens, auch die Beweisaufnahme, der Öffentlichkeit zugänglich sein muss. In anderen Worten, das Axiom »Gerechtigkeit muss vor aller Augen geübt werden« gilt lange bevor Staatsanwaltschaft und Verteidigung vor den Richter treten. Und dies ist ein kräftiges Argument in einem Land wie Italien, wo alle möglichen unzulässigen Einflüsse, von einer faschistischen Diktatur bis hin zur Mafia, über die Jahre Justitias Waage gekippt haben.
Enzo Tortora besaß sicherlich die Fähigkeit und auch das nötige Gewicht, seine Position in der Medienschlacht im Vorfeld des Prozesses zu verteidigen. Sieben Monate nach seiner Verhaftung durfte er den Rest der Untersuchungshaft in Hausarrest verbringen. Zur Europawahl im Juni 1984 kandidierte er für die Radikalen. (Der
Partito Radicale
bildete eine starke Plattform zur Verteidigung von Bürgerrechten.) Tortoras Wohnzimmer wurde für den Wahlkampf zum Fernsehstudio umfunktioniert, und er wurde mit großer Mehrheit gewählt. Im damaligen Italien genossen Parlamentarier, ob in Rom oder Straßburg, Immunität. Tortora erklärte öffentlich, er werde darauf verzichten.
Nachdem er für schuldig befunden worden war, nutzte er eine Zeit bürokratischer Formalitäten, um das Hochsicherheitsgefängnis auf Asinara zu besuchen, als Teil einer Initiative der Radikalen, die auf die desolaten Haftbedingungen dort aufmerksam machen wollten. In einer merkwürdigen Begegnung schüttelte Tortora sogar Raffaele Cutolo die Hand. »Sehr erfreut, Sie zu sehen«, spöttelte der NCO -Boss. »Ich bin Ihr Leutnant, erinnern Sie sich?«
Tortora, der wusste, dass der »Professor« Pandico einen Lügner gescholten hatte, entgegnete gutgelaunt: »Nein, Sie sind doch der Boss.«
Zwischen Weihnachten und Neujahr 1985 trat Tortora als Europaparlamentarier zurück. Vor Tausenden seiner Anhänger auf Mailands riesiger Piazza Duomo stellte er sich der Polizei, die ihn abführte, damit er seine Haftstrafe antrat.
Im September 1986 , fast auf den Tag genau ein Jahr, nachdem Tortora für schuldig befunden worden war, kippte das Berufungsgericht sein Urteil und stellte seinen guten Ruf wieder her.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts ließ das erste Gerichtsverfahren kafkaesk aussehen. Tortoras Hauptkläger Giovanni Pandico wurde als rachsüchtiger, größenwahnsinniger Spinner entlarvt. Geschmeichelt von der Aufmerksamkeit und Macht, die ihm sein Kronzeugenstatus einbrachte, hatte er an dem
Portobello
-Star Rache genommen, weil dieser ihn mit der Deckchensache brüskiert hatte. Die anderen NCO -Abtrünnigen, von denen viele während der Ermittlungen zu ihrem Schutz gemeinsam in einer Armeebarracke festgehalten wurden, hatten ihre Geschichten einfach mit derjenigen Pandicos in Einklang gebracht. Der Künstler, der gesehen haben wollte, wie Tortora in einem der Studios Bargeld gegen Kokain getauscht hatte, erwies sich als bekannter Verleumder, der die Medienaufmerksamkeit, die der Fall erhielt, nutzen wollte, um wenigstens ein paar seiner scheußlichen Bilder zu verkaufen.
Portobello
ging am 20 . Februar 1987 wieder auf Sendung. Tortora, sichtbar gezeichnet von seiner Leidenszeit, eröffnete die Show dennoch mit der gewohnten Nonchalance: »Nun, wo waren wir stehengeblieben?« Es ist noch immer einer der denkwürdigsten Augenblicke in der italienischen Fernsehgeschichte, in den sich ein Hauch von Bitterkeit mischt, weil Tortora bereits ein Jahr später an Krebs verstarb.
Die ganze Tortora-Geschichte fügte dem Rückhalt der Öffentlichkeit für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen ernsthaften Schaden zu. Die
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