Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
verblutete, war schmal, und Dutzende Menschen in den umliegenden Wohnungen mussten die Schüsse gehört haben. Doch niemand zeigte den Vorfall an, bis zum darauffolgenden Morgen. So blieb Ciaccio Montalto bis zu seinem tragischen Ende ein Einzelkämpfer.
Während die »prominenten Leichen« sich türmten und die barbarische Vormachtstellung der Mafia auf Sizilien zu bestätigen schienen, fand die eng verzahnte, aber isolierte Gruppe von Polizisten und Richtern, die gegen die Cosa Nostra kämpfte, irgendwie den Mut, ihren Kampf fortzusetzen. Ein besonders heftiger Schlag erfolgte im Sommer 1983 mit der Ermordung von Rocco Chinnici, dem Leiter der Ermittlungsbehörde und Vorgesetzten Falcones und Borsellinos. Chinnici wurde von einer gewaltigen Autobombe getötet, die vor seinem Haus gezündet wurde; zwei Leibwächter und die Hausmeisterin des Wohnblocks kamen bei der Explosion ebenfalls ums Leben. Dies war die bislang spektakulärste Eskalation im Terrorfeldzug der Cosa Nostra. Chinnici war einer der ersten Richter, die begriffen hatten, wie wichtig es war, die Öffentlichkeit für den Kampf gegen die Mafia zu gewinnen, den Justizpalast zu verlassen und in öffentlichen Versammlungen und in Schulen zu sprechen. Sein schockierender Tod erschütterte die gesamte Insel.
Kaum war ein Held beseitigt, trat schon ein anderer an seine Stelle – ein Freiwilliger. Antonino Caponnetto war ein stiller Mann, kurz vor dem Ruhestand, der eine angesehene Stellung in Florenz aufgab, um in seine Heimat Sizilien zurückzukehren. Noch bevor er die Kaserne bezog, die sein Palermer Zuhause sein würde, wusste Caponnetto, was er wollte: Er würde sich abermals ein Beispiel nehmen an Norditalien und dessen Kampf gegen den Terror. Angesichts der täglichen Bedrohung durch die Roten Brigaden hatten dort die Ermittlungsrichter nämlich beschlossen, kleine Arbeitsgruppen zu bilden, sogenannte »Pools« (man übernahm den englischen Begriff), um so zu verhindern, dass die Beseitigung eines Richters sämtliche Ermittlungen lahmlegen würde. Dieselbe Methode wollte Caponnetto gegen die Mafia anwenden. Der Palermer Antimafia-Pool – bestehend aus Giovanni Falcone, Paolo Borsellino, Giuseppe Di Lello und Leonardo Guarnotta – würde Wissen und Risiken teilen und auf diese Weise die einzelnen Fälle in einer großen Ermittlung zusammenfassen. Das Pool-System war die Reaktion der Ermittler auf die »todbringende Kombination«.
Der Palermer Pool machte unentwegt Fortschritte. So wurde zum Beispiel Gaspare Mutolos Telefon angezapft und sein Heroinzwischenhandel mit Fernost rekonstruiert. Mutolos Lieferant, Ko Bak Kin, wurde in Thailand festgenommen und erklärte sich daraufhin bereit, in Italien als Zeuge auszusagen. Ballistische Analysen hatten ergeben, dass ein und dieselbe Kalaschnikow bei einer ganzen Reihe von Mafiamorden zum Einsatz gekommen war – unter anderem bei Stefano Bontate und General Carlo Alberto Dalla Chiesa. Die Waffe war eine gemeinsame Signatur, die im Chaos und Blut allmählich erkennbare Muster hinterließ. Vor allem aber hatte das Überfallkommando einen Bericht über 162 Mafiosi erstellt, der eine ungefähre Skizze vom Frontverlauf in jenem Krieg beinhaltete, der zur Beseitigung von Stefano Bontate, Salvatore Inzerillo und deren Anhängern geführt hatte. Dennoch mussten die Ermittler auf geheime interne Quellen aus der Welt der Mafia zurückgreifen – auf Männer, die viel zu ängstlich waren und den Behörden viel zu sehr misstrauten, um ihre Namen zu verraten, geschweige denn Aussagen zu machen, die vor Gericht verwendet werden konnten.
Dann kam im Sommer 1984 Tommaso Buscetta, der Boss zweier Welten. Die Aussage des neuen Kronzeugen bedeutete einen großen Schritt vorwärts. Buscetta begann sein Geständnis, indem er den Namen verriet, mit dem Mafiosi ihre Bruderschaft bezeichneten. »Das Wort Mafia ist eine literarische Erfindung«, sagte Buscetta zu Falcone. »Die Organisation heißt ›Cosa Nostra‹, wie in den Vereinigten Staaten.«
Buscettas Gespräche mit Falcone wurden bis zum Januar 1985 fast ohne Unterbrechung fortgesetzt. Er erläuterte die gesamte Struktur der Cosa Nostra, nannte jeden, an den er sich erinnern konnte – von den Soldaten am unteren Rand der Pyramide bis hin zu den Bossen in der Kommission an der Spitze. Indem er auf beinahe vier Jahrzehnte Mafiaerfahrung zurückblickte (er war 1945 in die Familie von Porta Nuova eingeführt worden), erklärte Buscetta dem Richter das exotische
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