Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
lassen.
Selbst wenn sich der schlimmste Verdacht im Zusammenhang mit den Verhandlungen zwischen Staat und Mafia bestätigen sollte, wäre es in der Tat etwas vorschnell, daraus zu schließen, dass Silvio Berlusconis Hauptziel in der Regierung darin bestanden habe, nach der Pfeife der Cosa Nostra zu tanzen, oder dass sich sein politischer Erfolg mit einem Pakt mit der Cosa Nostra erklären ließe. Das Phänomen Berlusconi umfasst sehr viel mehr als seine mutmaßlichen Kontakte zur Cosa Nostra.
Berlusconis Priorität galt, während er die Macht innehatte, der Bewahrung seiner Geschäftsinteressen vor dem, was er für eine juristische Verschwörung hielt. Indem er sich verteidigte, schadete er der Antimafia-Bewegung. Nach Ansicht Berlusconis befreiten seine Beliebtheit und sein Wahlerfolg ihn von der Rechtsstaatlichkeit. Viele der Maßnahmen, die er einführte oder einzuführen versuchte, waren gänzlich ungeeignet, die Grenze zu ziehen zwischen seinen eigenen Belangen auf der einen Seite und jenen des Staates und des italienischen Volkes auf der anderen. Er versuchte wiederholt, für sich den Schutz der Immunität einzufordern. Er führte Amnestien ein für Leute, die ihr Geld wieder ins Land holen wollten, das sie zuvor illegal auf ausländischen Konten deponiert hatten (üblicherweise um die Aufmerksamkeit des Gesetzes oder der Steuerbehörden zu umgehen). Er entkriminalisierte Bilanzfälschungen und erschwerte es den Richtern, Beweismittel von Finanzinstituten in anderen Ländern einzuholen. Er verabschiedete ein Gesetz, das eigens auf Oberstaatsanwalt Giancarlo Caselli zugeschnitten war, der nach den Morden an Falcone und Borsellino in Palermo solch außergewöhnliche Erfolge erzielt hatte. Das Gesetz beschränkte das Höchstalter für den Posten des Chefs der
Direzione Nazionale Antimafia
und sollte Caselli daran hindern, den Posten zu bekommen, für den er sich von allen Kandidaten am besten eignete. Mafiosi, Camorristi und ’Ndranghetisti waren zwar nicht die beabsichtigten Nutznießer dieser und anderer Veränderungen, aber sie werden sie dennoch mit breitem Grinsen begrüßt haben.
Berlusconis Rhetorik zum Thema des organisierten Verbrechens war oftmals verantwortungslos. Einem britischen Journalisten gegenüber äußerte er, er halte die Richter und Staatsanwälte, die die Mafia bekämpften, für »Verrückte«. »Um diese Arbeit tun zu können, muss man geistesgestört sein«, behauptete er. Berlusconis Partei zog die Mafias an, die ihr Wählerstimmen verschafften. 1994 sagte der ’Ndrangheta-Boss Giuseppe Piromalli öffentlich: »Wir wählen alle Berlusconi.« Dies ist an sich noch kein Skandal: Die Mafias werden von der Macht angezogen, ganz gleich, wer sie innehat. Doch Berlusconi tat wenig, um solche Anhänger abzuweisen oder abzuschrecken.
Ob in der Opposition oder an der Regierung (die er von 1994 bis 1995 , von 2001 bis 2006 und von 2008 bis 2011 innehatte), Silvio Berlusconi war nicht zu übersehen. Man verehrte oder verabscheute ihn. Vom Ausland aus betrachtet, verlieh seine Dominanz der politischen Szene Italiens zwischen 1994 bis 2011 einen trügerischen Anschein von Klarheit. Wer hinter die Fassade blickt, dem bietet sich ein entmutigend vertrautes Bild von jenem lähmenden politischen Durcheinander, das Italien seit jeher daran hinderte, die dringend nötigen Reformen einzuführen, und den Staat angesichts der Bedrohung durch das organisierte Verbrechen schwächte.
Mit dem Ende des Kalten Krieges boten sich für Italien genau wie für seine Nachbarn und die übrigen Industrienationen neue Chancen und Risiken. Zum einen gab es die Ausweitung und Festigung der Europäischen Union, mit der Einführung des Euro und der nachfolgenden Krise. Die Globalisierung konfrontierte Italien zum ersten Mal mit einer Massenzuwanderung und einer Flut an billigen chinesischen Erzeugnissen. Der Aufstieg der Informationsgesellschaft zwang Wirtschaften weltweit zu reagieren. Das Ende der Ideologien des Kalten Krieges ließ die Repräsentanten vieler politischer Systeme nach neuen Wegen suchen, um auf verwirrte Wähler einzugehen. Alte Probleme – wie das Gleichgewicht zwischen gesellschaftlicher Solidarität und wirtschaftlichem Liberalismus – stellten sich in ungewohnter Form.
Besonders Italien standen dringliche Aufgaben bevor, die es von der Ersten Republik geerbt hatte: sein schwaches Bildungssystem; der beklagenswerte Zustand seiner öffentlichen Finanzen; die unverhältnismäßig hohe
Weitere Kostenlose Bücher