Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
fortschrittlicher: Abhörgeräte und Peilsender kamen ins Spiel, und Polizeibeamte wie Carabinieri erlangten immer mehr Erfahrung in ihrer Anwendung. Bevor Giovanni Falcone ums Leben kam, übertrug er seine Erfahrung im Palermer Ermittlerteam auf Italiens neue überregionale Organisationen zur strafrechtlichen Verfolgung von Mitgliedern des organisierten Verbrechens. Nach Falcones Tod blieb Palermo ein Vorbild für ganz Italien: Es wurde zum Klassenraum für Mafiajäger.
Einer der vielen maßgeblichen Flüchtigen, die es aufzuspüren galt, war Leoluca Bagarella, Totò Riinas Schwager. Bagarella war der erste Boss, der das gewaltige Führungsvakuum füllte, das der diktatorische Riina bei seiner Festnahme hinterließ. Bagarellas Macht war in erster Linie militärischer Natur: Er erbte das Kommando über die spezialisierten Killertrupps der Cosa Nostra. Er erbte außerdem Riinas Krieg gegen den italienischen Staat, den Bagarella fortsetzte, indem er 1993 die Terroranschläge auf dem italienischen Festland organisierte.
Um flüchtige Mafiosi wie Bagarella aufzuspüren, galt es alles herauszufinden, was es über ihr Revier und ihr Beziehungsnetz zu wissen gab, und die einzelnen Informationsfragmente über ihr Privatleben und ihre Persönlichkeitsstruktur zusammenzusetzen. Sobald die Flüchtigen gefasst waren, boten ihre Lebensgeschichten Soziologen und Psychologen reiche Einblicke in diese Welt innerhalb des Universums, das die Cosa Nostra darstellt. Die innere Kultur der sizilianischen Mafia, geprägt von der permanenten Angst vor Verrat und einer selbstverständlichen Vertrautheit mit dem gewaltsamen Tod, schien unserer eigenen Erfahrung gänzlich fremd zu sein. Doch gleichzeitig war das Mafialeben auf unheimliche Weise normal, angefüllt mit alltäglichen Geschichten von Liebe und Verlust. Wie so oft erwiesen sich Giovanni Falcones Einblicke in die Mentalität der Mafia als richtig. Mafiosi seien keine Monster, stellte Falcone einmal fest:
»Der Umgang mit Mafiosi hat mein Verhältnis zu anderen Menschen, auch meine Überzeugungen, stark beeinflusst. Ich habe gelernt, das Menschliche sogar in jenen zu erkennen, die offenbar die Allerschlimmsten sind. Ich habe gelernt, die Meinungen anderer Menschen wirklich zu respektieren, nicht nur der Form halber.«
Bagarellas Geschichte war ein Musterbeispiel. 1991 heiratete er seine Frau Vincenzina Marchese. Ihre männlichen Angehörigen waren Mitglieder der Corso dei Mille-Familie der Cosa Nostra. Es handelte sich also um eine klassische Vermählung zwischen Mafiadynastien, üppig gefeiert mit Hunderten von Gästen. Bagarella ließ die Titelmelodie des
Paten
über das Hochzeitsvideo legen. Gleichzeitig aber war die Verbindung fraglos eine Liebesheirat, und die beiden waren einander sehr zugetan. Kronzeugen haben seither erzählt, dass Bagarella, sobald Vincenzina ihn zum Abendessen rief, sogar im Strangulieren innehielt, um ihr bei Tisch Gesellschaft zu leisten.
Doch die Bagarellas hatten eine heimliche Sorge. Vincenzina hatte Schwierigkeiten, das Kind zu empfangen, das sie sich wünschte, und gelangte zu der Überzeugung, dies sei die Strafe Gottes für das Schlimme, das die Cosa Nostra dem kleinen Giuseppe Di Matteo angetan hatte, jenem Jungen, der über zwei Jahre gefangen gehalten worden war, bevor man ihn schließlich erwürgt und in Säure aufgelöst hatte. Sie fragte ihren Mann immer wieder, was mit dem Jungen geschehen sei, und er beteuerte ihr jedes Mal, dass er noch lebe (was zu dem Zeitpunkt noch stimmte). Doch Vincenzina fand keine Ruhe. Am 12 . Mai 1995 erhängte sie sich im gemeinsamen Versteck. Weil ihr Mann auf der Flucht vor dem Gesetz war, konnte er sie nicht ordentlich begraben. Er musste sie sogar an wechselnden Orten verscharren. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Einen Trauermonat lang weigerte sich Bagarella aus Respekt vor seiner geliebten Frau, sich an einem Mord zu beteiligen. Als er am 24 . Juni 1995 verhaftet wurde, sechs Wochen nach dem Tod seiner Frau, hatte er gerade den Wiedereinstieg geplant. Ihren Ehering trug er an einer Kette um den Hals.
Weitere flüchtige Mitglieder der Palermer Kommission gerieten ins Schleppnetz der Fahnder. Am 20 . Mai 1996 war Falcones Mörder an der Reihe. Giovanni Brusca war in Mafiakreisen als
lo scannacristiani
, »der Mann, der Christen die Kehle durchschneidet«, bekannt oder schlicht als
’u verru
, das »Schwein«. Er hatte die Idee, sich bäuchlings auf ein Skateboard zu legen, um die Fässer mit
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