Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
umstrittenen Fall keine bloße Formalität sein.
Die Vorwürfe, eingereicht von den Ermittlungsrichtern, zeichnen das Bild einer Verhandlung, die mehrere Stadien durchlief und Kontakte zwischen der Cosa Nostra und etlichen Funktionären und Politikern beinhaltete, von denen keineswegs alle unter den Angeklagten waren. Die Richter glauben, dass die Cosa Nostra, um 1992 und 1993 ihre Ziele zu erreichen, neue politische Partner finden musste – und dies ausgerechnet in der Zeit, da Italiens politische Parteien aus der Ära des Kalten Krieges zerfielen und das Land den turbulenten Übergang zwischen der Ersten und der Zweiten Republik (wie wir sie jetzt nennen) aushandelte. Unter den Protagonisten der Verhandlungen gab es auf staatlicher Seite wahrscheinlich drei Arten von Politikern: zum einen jene aus der Ersten Republik, die zunächst der Cosa Nostra nahestanden, sich aber dann von Riinas Raserei bedroht fühlten. Zweitens die Staatsmänner, die versuchten, Italien durch seine wirtschaftliche und politische Krise zu führen, die zwar nicht auf freundschaftlichem Fuß standen mit der sizilianischen Mafia, aber dennoch fehlgeleitete Versuche unternahmen oder billigten, die Befürworter der Massaker zu beschwichtigen. Und schließlich die neuen Männer, die sich in den Trümmern der Ersten Republik politisch durchzusetzen suchten. Männer wie Marcello Dell’Utri, die sizilianische rechte Hand eines Medienmoguls, der bald die beherrschende und umstrittenste Gestalt der Zweiten Republik sein würde, Silvio Berlusconi.
Berlusconi wählte sich seine politischen Freunde aus der Ersten Republik mit Bedacht: Der Sozialistenführer und einstige Ministerpräsident Bettino Craxi war der Trauzeuge bei seiner zweiten Hochzeit. Der Zusammenbruch der alten politischen Ordnung war eine ernsthafte Bedrohung seiner Geschäftsinteressen. Vermutlich sondierten Berlusconis Leute bereits im Juni 1992 (also zwischen den Morden an Falcone und Borsellino) das Terrain für die Gründung einer neuen politischen Partei. Die Richter behaupten, Dell’Utri habe sich, als Berlusconis politische Pläne Gestalt annahmen, der Cosa Nostra als Verhandlungspartner angeboten und versprochen, ihr einige Wünsche zu erfüllen, falls sie ihn unterstützte. Die Zweite Republik begann im März 1994 , als Berlusconi seine neue Partei, die
Forza Italia
, zum Wahlsieg führte. Dies war nach Meinung der Richter der Zeitpunkt, als »der neue Cohabitationspakt zwischen Staat und Mafia endlich besiegelt wurde«.
Marcello Dell’Utri ist für die Leser dieser Seiten ein alter Bekannter. Er war es, der 1974 den Mafioso Vittorio Mangano eingestellt hatte, um Berlusconi und seine Familie vor Kidnappern zu schützen. Seit 1996 war Dell’Utri der Beschuldigte in einem schier endlosen Mafiaprozess. Derzeit steht ihm ein Schuldspruch mit neun Jahren Gefängnis ins Haus, weil er die Cosa Nostra unterstützt hat. Dell’Utri befindet sich jedoch nach wie vor auf freiem Fuß, weil das Urteil vorläufig bleibt: Die Berufung wurde aufgehoben und muss erneut verhandelt werden. Bisher haben die Richter ausdrücklich bestritten, dass Dell’Utri zu Beginn der 1990 er Jahre, als zwischen Staat und Mafia angeblich Verhandlungen stattfanden, noch Kontakte zur Cosa Nostra unterhielt. Doch auch dies mag sich ändern. Man sollte zudem erwähnen, dass eine Ermittlung, basierend auf der Theorie, dass Berlusconi und Dell’Utri bei den Bombenanschlägen der Cosa Nostra als deren Auftraggeber eine Rolle spielten, 2002 wegen mangelnder Beweise ad acta gelegt wurde. Gegen Berlusconi wurde im Zusammenhang mit den Bomben der Cosa Nostra nie Anklage erhoben. Auch im jüngsten Prozess erscheint er höchstens als das Opfer einer vorgeblichen Erpressung durch seinen Freund Marcello Dell’Utri. Dieser ist einer der beiden Politiker, denen zur Last gelegt wird, sie hätten der Cosa Nostra bei ihrer Verhandlungsstrategie geholfen.
Keine Periode in der italienischen Mafiageschichte ist ohne bleibende Ungewissheiten. Historiker leben mit der konstanten Gefahr, dass ihr Werk vergeblich war, sobald im Archiv irgendein neues Dokument auftaucht oder ein neuer Kronzeuge sein Gedächtnis aufschließt. Die Übergangsjahre 1992 bis 1994 sind mehr als andere von Zweifeln geprägt. Nur die Zeit – die lähmend langsame Zeit, in der die italienische Justiz voranschreitet – wird ans Licht bringen, was tatsächlich wahr ist an dem Verdacht, die Cosa Nostra hätte geplant, Bomben sprechen zu
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