Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Jugendarbeitslosigkeit und der europaweite Rekord in Sachen Steuervergehen; das chronische Ungleichgewicht zwischen Nord- und Süditalien; fehlende Investitionen für Forschung und Entwicklung; die Zeitbombe der Renten; und zu guter Letzt die Kontrolle, die kriminelle Organisationen über mehr als ein Viertel des Staatsgebiets ausübten … Der Niedergang der Ersten Republik bot italienischen Politikern jeder Couleur die Chance, neue Lösungen zu finden für alte und neue, lokale und globale Herausforderungen. Das Resultat nach zwei Jahrzehnten Zweiter Republik wird von den meisten – ob von links, von rechts oder der Mitte – nicht anders als beklagenswert eingestuft.
In der Ersten Republik waren Parlament und Senat von der politischen Mitte aus durch den riesigen, formlosen, unbeweglichen »weißen Wal« der
Democrazia Cristiana
beherrscht worden. Die extreme Linke (Kommunisten) und die Rechte (Neofaschisten) waren dauerhaft von der Macht ausgeschlossen. Jetzt war der weiße Wal verschwunden. Italiens Katholiken, früher allesamt in der
Democrazia Cristiana
, waren jetzt über das ganze politische Spektrum verstreut. Die Kommunisten bekehrten sich (zumeist) zu irgendeiner Form der Sozialdemokratie, und die Neofaschisten gerierten sich (zumeist) als konventionelle europäische Mitte-rechts-Partei. Niemand wurde a priori vom Spielfeld gestellt, wenn es galt, Regierungskoalitionen zu bilden. Sogar die
Lega Nord
– eine Bewegung, die für ein fiktives Land namens »Padania« barsch die Unabhängigkeit forderte und zu rassistischen Entgleisungen neigte, die in jedem anderen europäischen Staatswesen undenkbar wären – war mittlerweile ein gefragter Verbündeter.
Was viele Menschen sich für die Geburt der Zweiten Republik wünschten, war Klarheit. Um Italien eine effektive Regierung zu geben, bestand Konsens über sogenannte bipolare Fragen: die Vorstellung, dass zwei gegensätzliche Kräfte – mitte-rechts und mitte-links – um die Loyalität der Wähler konkurrieren und die Regierung beziehungsweise die Opposition stellen sollten, je nachdem, wer den Sieg davontrug. Anders ausgedrückt, italienische Politiker würden sich daran gewöhnen müssen, Wahlen sowohl zu gewinnen als auch zu verlieren. Regierungen würden in der Gewissheit regieren, dass das Wahlvolk sie vor die Tür setzen würde, wenn sie keine Leistung erbrachten. Niemand wäre mehr imstande, die Macht in der Art und Weise für sich in Anspruch zu nehmen, wie die Christdemokraten dies fast ein halbes Jahrhundert lang getan hatten. Die Linke hätte kein Monopol mehr auf den Versuch, aus dem Vorwurf politisch Kapital zu schlagen, die Gegenseite sei korrupt und stecke unter einer Decke mit dem organisierten Verbrechen.
Die Theorie war gut, die Praxis ein einziges Durcheinander: teils wegen des schlecht entworfenen Wahlrechts, das darauf angelegt war, Bipolarität zu fördern, doch vor allem wegen der altbekannten italienischen Flügelkämpfe. Es gab immer mehr kleinere Parteien, die größere mit der Drohung erpressen konnten, ihnen die Unterstützung zu entziehen. Katholiken und Ex-Kommunisten setzten ihre Suche nach einer politischen Identität fort, doch vergeblich. Die Interessen des Nordens und des Südens, laizistische Werte und Katholizismus, regionale und nationale Interessen spalteten weiterhin jedes Wahlbündnis von innen her – ganz zu schweigen von den konventionelleren Quellen politischer Uneinigkeit über wirtschaftliche und soziale Strategien, oder von der Unbeständigkeit, die ein übertriebener persönlicher Ehrgeiz mit sich brachte. Schamlos schlossen Politiker, die zuvor noch bösartige Beleidigungen getauscht hatten, Zweckbündnisse. ( 1998 sagte der Anführer der
Lega Nord
, Umberto Bossi, es könne »keine Einigung mit dem Mafioso« geben. Er meinte Berlusconi, den er später, als sie Koalitionspartner waren, eisern unterstützen würde.)
Mit jeder Wahl erlebte Italien ein neues verwirrendes Aufgebot an Akronymen und Symbolen: schwache politische »Marken« für hastig gegründete Parteien und Koalitionen. Jede Koalition aus Mitte-rechts- oder Mitte-links-Parteien, die sich vor dem Urnengang präsentierte, war in lähmender Weise zersplittert und begann sofort zu bröckeln, nachdem sie gewählt war. Politiker ließen Regierungskoalitionen im Stich, sobald es mulmig wurde. Regierungen versorgten weiterhin ihre politischen Freunde mit Posten. Die staatlichen Fernsehkanäle, denen jede Unabhängigkeitstradition fehlte, waren
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