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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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passenden Antworten und war vernünftig genug, dies auch zuzugeben: So räumte er beispielsweise ein, dass er nicht wisse, wie viele Bosse und Mitglieder die Mafia habe. »Um Macht und Einfluss der Mafia wirklich einschätzen zu können, müssten wir diese mysteriöse Organisation besser kennenlernen.«
    Ein Jahrzehnt später blinzelte ein weiterer parlamentarischer Untersuchungsausschuss in das Dunkel sizilianischer Angelegenheiten. Im März 1876 , diesmal in Rom (seit 1870 Italiens Hauptstadt), durfte der Marchese di Rudinì darlegen, ob es ihm tatsächlich gelungen war, mehr über die mysteriöse Mafiaorganisation zu erfahren.
    Rudinìs politische Karriere war inzwischen weiter gediehen: 1869 wurde er für eine Weile Innenminister. Doch die Jahre schienen sein Selbstvertrauen ausgehöhlt zu haben, denn er äußerte sich jetzt zögerlich, ausweichend und reichlich konfus über die Mafia.
    Zunächst behauptete er, die öffentliche Meinung in Sizilien sei bereits so »fehlgeleitet«, dass die einheimische Bevölkerung »Sympathien« hege für Verbrecher. Weil er vermutlich ahnte, dass mit derlei Aussagen in Sizilien kein Blumentopf zu gewinnen war, versuchte er sie abzumildern, indem er hinzusetzte, dergleichen geschehe »in jedem anderen Land der Welt«. Die befremdeten Blicke der Kommissionsmitglieder, die ihm gegenübersaßen, ignorierend, haspelte er weiter:
    »Wenn nun die öffentliche Meinung und das gesamte moralische Bewusstsein in einer Weise auf Abwege geraten, wie ich es beschrieben habe, ist das Ergebnis die Maffia. Die berühmte Maffia! Doch was ist die Maffia? Lassen Sie mich vorausschicken, dass es eine gutartige Maffia gibt. Die gutartige Maffia ist eine Art Draufgängertum. Es ist die seltsame Neigung, sich nicht schikanieren zu lassen; stattdessen schikaniert man andere. Man nimmt eine gewisse Pose ein – die Pose des
farceur
, des Scherzbolds, wie der Franzose sagen würde. Ich könnte also selbst ein gutartiger Maffioso sein. Nicht, dass ich einer bin. Ich will damit nur sagen, dass ein jeder Mensch mit einem Funken Selbstachtung und einer Prise Großspurigkeit ein Maffioso sein könnte.«
    Rudinì schwafelte weiter von der »bösartigen Maffia«, die das unglückselige Ergebnis der »Atmosphäre« sei, die von der gutartigen Maffia geschaffen werde. Als hätte er nicht schon genug getan, um seine Zuhörer zu verwirren, unterteilte er die bösartige Mafia weiter in zwei scheinbar unabhängig voneinander agierende Untertypen: zunächst die Gefängnismafia – doch die sei ohnehin längst verschwunden; dann die »hohe Mafia«, wie er sie nannte. Im Unterschied zur Gefängnismafia sei die hohe Mafia im Grunde keine richtige kriminelle Vereinigung, sondern vielmehr eine »Solidarität im Verbrechen«.
    Sein Geschwafel war ungefähr so klar wie ein Glas des schwarzen sizilianischen Weins. Keine Rede von organisiertem Verbrechen. Keine Rede von Bossen oder einer Verbindung zwischen den Gefängnissen und den Kriminellen draußen. Kein Hinweis mehr auf Großgrundbesitzer, die zu »Briganten« wurden, oder auf Schutzgelderpressung. Kein Hinweis mehr auf Zitronengärten, Zeugeneinschüchterung, Raub und Blutrache. Nicht einmal die Andeutung, dass es möglicherweise noch mehr zu erfahren gab.
    Zwischen 1867 und 1876 war der klare Blick des Marchese di Rudinì auf die Mafia einer sonderbaren Bewusstseinstrübung, seine aufrichtige Ablehnung einer diffusen Rechtfertigung gewichen.
    Rudinì war nicht der einzige Zeuge, der 1876 ein solch wirres Geschwätz von sich gab. Einige leugneten rundheraus, dass die Mafia überhaupt existierte. Andere sprachen von einer »guten und einer schlechten Mafia«, von der stolzen Art und Weise, wie die Insulaner das Gesetz in die eigenen Hände nähmen, und so weiter. Falls die Mafia tatsächlich existiere, sei sie etwas Formloses, gegenüber einem Außenseiter schwer zu Beschreibendes, etwas, das den Sizilianern in den Knochen sitze. Niemand könne jemals hoffen, die Mafia besser kennenzulernen.
    Rudinì hatte gute Gründe für seine Verwirrtheit, als er 1876 vor die Untersuchungskommission trat. Diese Kommission war infolge eines Skandals ins Leben gerufen worden, in den der Polizeichef von Palermo verwickelt gewesen war, ein Mann namens Giuseppe Albanese. 1871 war Albanese geflüchtet, um nicht wegen mehrerer Morde verhaftet zu werden, die er angeblich gemeinsam mit dem Mafiaboss von Monreale in Auftrag gegeben hatte, dem mutmaßlichen Nachfolger Turi Micelis als Boss von

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