Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
eine Art Taufe durchlaufen, die sie zu einem neuen, exaltierteren Verbrecherleben berechtige, erklärte der Polizeichef. Der Bewerber werde an einen entlegenen Ort geführt und müsse vor Giammona und dessen Unterbosse treten. Er habe den Finger oder den Arm vorzustrecken, Giammona steche ihn mit einem Dolch und lasse sein Blut auf ein Heiligenbildchen tropfen. Das Bild werde angezündet und die Asche verstreut – ein Hinweis auf die völlige Auslöschung der Verräter –, während der Rekrut der Sekte ewige Treue schwöre.
Der Polizeichef von Palermo hegte keinerlei Zweifel, dass er eine bedeutende Entdeckung gemacht hatte: Sie widerlegte all das Gewäsch über die »gutartige Mafia«, die Mafia als eine dem Sizilianer angeborene Selbstüberhöhung.
»Damit ist erwiesen, dass die Maffia nicht nur die instinktive Neigung Einzelner zur Grausamkeit gegen andere ist, sondern eine konspirative Sekte mit Eigenleben, die im Verborgenen agiert.«
Dasselbe Ritual zieht sich durch die gesamte Geschichte der Mafia Siziliens und Nordamerikas. Doch die Regeln, die für die einzelnen Mafiagruppen oder
cosche
(»kos-ke« gesprochen) gelten, werden kaum jemals schriftlich festgehalten. Weil sie mündlich weitergegeben werden, weisen sie geringfügige örtliche Variationen auf: zum Beispiel im Wortlaut des Gelübdes, das der Neuling ablegt. Zuweilen wurde in die Unterlippe gestochen, öfter aber in den Zeigefinger. Die meisten
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benutzten dazu eine Nadel, einige den Dorn eines Bitterorangenbaumes. Es waren unterschiedliche Heiligenbilder, die von den Flammen verzehrt wurden, doch das bei weitem häufigste Motiv war Mariä Verkündigung. Es gibt nichtsdestoweniger eine starke Familienähnlichkeit zwischen den verschiedenen Varianten. Diese Familienähnlichkeit zeigt am deutlichsten, dass die Mafia nicht nur ein arrogantes Gehabe bezeichnet oder irgendeine vage »Solidarität im Verbrechen«, wie der Marchese di Rudinì behauptete, sondern dass es sich um eine Organisation handelt. Und diese Organisation hat eine Geschichte – einen roten Faden, der sich von den Zitrusgärten des Palermer Hinterlandes bis in die Straßen New Yorks zieht und darüber hinaus.
In den Monaten nach der Offenlegung des Initiationsrituals erfuhr man von ähnlichen Gelübden in anderen Gegenden der Provinz Palermo, sogar in der Provinz Agrigent auf der anderen Seite der Insel. Kurioserweise wurde eine der
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, die sich dieser Rituale befleißigten, ausgerechnet in der Stadt Canicattì entdeckt, wo der Marchese di Rudinì seinen Wahlkreis hatte.
Die Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Mafiafamilien waren eklatant. Wie die Giammona-Bande in Uditore verständigten sich auch die anderen
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über einen kodierten Dialog, so dass Mafiosi, die sich persönlich nicht kannten, einander als Brüder im Verbrechen identifizierten. Der Dialog begann, indem ein Mafioso über Zahnschmerzen klagte und auf einen Eckzahn im Oberkiefer zeigte. Der zweite Mafioso erwiderte, dass auch er Zahnschmerzen habe. Daraufhin erzählten die beiden einander, wo die Schmerzen angefangen hatten, wer dabei gewesen war und so weiter. Die »Zahnschmerzen« standen für eine Mitgliedschaft in der Mafia; und die Hinweise auf den Ort, an dem das Zahnweh begonnen hatte, sollten an den Moment erinnern, als der Mafioso sein Gelübde ablegte.
All diese Beweise kamen zu einem politisch prekären Zeitpunkt. Die Linke war gerade im Begriff, ihre Macht zu festigen, und musste erkennen, dass die Mafia etwas weitaus Bedrohlicheres war als nur eine merkwürdige, typisch sizilianische Form von Draufgängertum. Im November 1876 schließlich wurden die Zustände von Recht und Gesetz auf Sizilien zum internationalen Ärgernis, als der englische Betreiber einer Schwefelmine in der Provinz Palermo entführt wurde und der schwere Verdacht aufkam, dass hierbei die Mafia die Hand im Spiel hatte.
Der neue Präfekt von Palermo, der linksgerichtete Antonio Malusardi, gelangte zu der Überzeugung, dass es eine Verbindung geben müsse beziehungsweise, wie er es nannte, »einen regen Austausch« zwischen den verschiedenen Mafiazellen. Am 30 . Januar 1877 schrieb der Präfekt an den Oberstaatsanwalt, der das gesamte Rechtssystem in Palermo kontrollierte, und beschwor ihn, die verschiedenen Ermittlungen gegen die Mafia zusammenzuführen, damit es möglich werde, die Kommunikation zwischen den einzelnen
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zu untersuchen. In anderen Worten, der Präfekt von Palermo bat den Oberstaatsanwalt, ihm
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