Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
werden.
Wenn es etwas gibt, das die Mafia fürchtet, dann sind es tüchtige Polizisten. Trotz aller kriminellen Verflechtungen der Ordnungshüter mit den Kriminellen in Neapel und Palermo hat das Italien des 19 . Jahrhunderts einige herausragende Ordnungshüter hervorgebracht. Unter den besten war ein blonder Polizist mit kantigem Kinn namens Ermanno Sangiorgi. Sangiorgis umfangreiche Personalakte wird im zentralen Staatsarchiv in Rom zwischen den ungezählten Dokumenten des Innenministeriums aufbewahrt. Sie zeugt von einer Karriere, die nahezu fünf Jahrzehnte umspannte. Sangiorgi trat im Jahr 1907 in den Ruhestand, als mittlerweile erfahrenster und verdientester Mafiajäger im ganzen Land. Er verkörpert all die Widrigkeiten des Kampfes gegen die Mafia nach der Einigung Italiens.
Aus sehr guten persönlichen und beruflichen Gründen zog Sangiorgi niemals in Zweifel, was die Mafia in Wirklichkeit war: eine geheime Mördersekte, die mit ihren Tentakeln den gesamten Westen Siziliens umspannte. Zum einen nämlich hatte Sangiorgi die Untersuchung im Fall der Uditore-Mafia geführt, deren Boss der Dialektdichter Don Antonino Giammona war, zum zweiten hatte er das Initiationsritual und den Zahnwehdialog aufgedeckt.
Was im nächsten Kapitel folgt, ist die Geschichte einer zunächst unbekannten Ermittlung, die parallel zum Uditore-Fall lief. Die Mafia verzieh es Ermanno Sangiorgi nicht ohne weiteres, dass er ihr Initiationsritual an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Als sie ihre Rache übte, wurde Sangiorgi bewusst, wie subtil und weit verzweigt ihre Macht war und wie sehr sich Carlo Morena getäuscht hatte, als er die Existenz einer kriminellen Geheimgesellschaft im Westen Siziliens verneinte.
Sangiorgis Ermittlung offenbart auch die unseligen Schachzüge in den Anfangsjahren der Linken, als der Mafia zwar zum ersten Mal der Prozess gemacht wurde, zugleich aber auch sizilianische Politiker, und mit ihnen die Freunde der Mafia, die nationale politische Bühne betraten.
Es gibt ein politisches Thema im Hintergrund, das man sich gleich zu Beginn dieser Geschichte merken sollte: Diskontinuität. Das Problem hat Italiens Reaktion auf das organisierte Verbrechen einen Großteil der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte negativ beeinflusst. Seit 1860 brachte das italienische System, ob unter der Rechten oder der Linken, eine zerbrechliche Koalitionsregierung nach der anderen hervor und sorgte so für eine schwindelerregende Fluktuation von Beamten und Politikern.
Das beste Beispiel dafür ist das Polizeiwesen. Die kurze Kommandokette, die uns hier Sorgen bereitet, verläuft wie folgt: vom Premierminister über den Innenminister in Rom zum Präfekten von Palermo, dann über den Polizeichef der Stadt zu den Beamten vor Ort. Die nachfolgende Geschichte erstreckt sich über dreieinhalb Jahre, vom November 1874 bis zum Juni 1878 . Es war eine schlechte Zeit für Veränderungen, aber durchaus aussagekräftig: Es gab drei Premierminister, vier Innenminister, sechs Präfekten von Palermo und drei Polizeichefs. Manche von ihnen hatten kaum genügend Zeit, ihre Jacken aufzuhängen, ehe sie wieder versetzt wurden. Auf allen Ebenen wechselte man, was die Handhabung der Mafia anbelangte, unberechenbar zwischen zwei Extremen: im Zaum halten oder hätscheln. Für Polizisten an vorderster Front wie Ermanno Sangiorgi konnten diese schnellen politischen Wetterwechsel beängstigende Konsequenzen haben.
Zweifache Rache
Wie die meisten italienischen Polizisten wollte auch Ermanno Sangiorgi unbedingt die Gunst der Staatsbeamten erobern, die sein Schicksal in der Hand hatten und jeden seiner Schritte überwachten. Die Bezahlung war dürftig, die Bedingungen hart. Die Polizei hatte eine nationale Karrierestruktur und pflegte ihre Beamten in so kurzen Abständen zu versetzen, dass selbst einfache Polizisten ihre gesamte Laufbahn im stets wechselnden Exil zubrachten, in fremden Gemeinden, deren Bewohner unverständliche Dialekte sprachen und verächtlich auf die Polizisten herabschauten.
Sangiorgi stammte aus der nördlichen Mitte Italiens, kam 1840 in der Kurstadt Riolo in der Emilia-Romagna zur Welt. Er wusste nur allzu gut, wie abträglich eine Polizeikarriere dem Familienleben sein konnte. Nachdem seine erste Frau verstorben war, vermutlich im Kindbett, musste er, noch keine zwanzig, allein für seinen Sohn Achille sorgen. 1861 heiratete er seine zweite Frau, Enrica Ricci, ein Mädchen aus einer angesehenen Familie des unteren Mittelstandes
Weitere Kostenlose Bücher