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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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Oberstaatsanwalts freilich nicht als ein leuchtendes Beispiel forensischer Logik. Die verschiedenen Vereinigungen, argumentierte er, könnten schon deshalb nicht miteinander in Verbindung stehen, weil sie allzu oft in Konflikt gerieten. Der Zahnwehdialog sei auch keine neue Entdeckung: Auf dem gesamten Eiland hätten sich gewaltbereite Schläger eine Zeitlang dieser Formeln bedient, um zu prüfen, ob ihr Gegenüber ihre Gesinnung teilte; sie hätten im Gefängnis in Milazzo damit angefangen und die Idee wahrscheinlich aus einem Roman von Alexandre Dumas übernommen, dem Verfasser der
Drei Musketiere
. Zum Schluss räumte der Oberstaatsanwalt ein, dass die verschiedenen Banden allenfalls bei einer Gelegenheit ein gemeinsames Ziel verfolgt hätten: bei der Revolte im September 1866 , als sie sich verbündet hätten, um die nach ihren Worten »verabscheuungswürdige Regierung« zu stürzen. Warum all diese Argumente in entscheidender Weise hätten dazu beitragen sollen, die Theorie eines einzigen, vereinten Mafianetzwerks zu entkräften, ist nicht ganz einsichtig.
    Mafiosi haben sich schon vor 1877 gegenseitig umgebracht, und seither immer wieder. Doch das hindert sie nicht daran, derselben Bruderschaft anzugehören.
    Die Tatsache, dass das Zahnwehgerede möglicherweise im Gefängnis zustande kam, vermag den Verdacht, der ihm anhaftet, nicht zu zerstreuen – ganz im Gegenteil. Dasselbe gilt für die Möglichkeit, dass es von einem Roman, einer Oper oder dergleichen abgekupfert wurde. Wie das Märchen von den spanischen Ursprüngen der Camorra beweist, haben kriminelle Organisationen eine Schwäche dafür, sich eine reich ausgeschmückte Mythologie zu schaffen; wir können schwerlich überrascht sein, wenn die Gangster skrupellos genug sind, zu diesem Zweck das eine oder andere aus der Kultur zu plagiieren, in der sie leben.
    Und nicht zu vergessen: Wenn viele der Banden ihre Aktionen gut genug koordinieren konnten, um im September 1866 gleichzeitig zu rebellieren, wäre dies doch wohl der verstörende Beweis dafür, dass sie miteinander im Bunde waren, nicht wahr?
    Es ist nun an der Zeit, den Oberstaatsanwalt, der diese wackeligen Argumente in die Welt setzte, unter die Lupe zu nehmen. Er hieß Carlo Morena und war ein geachteter Richter, der im Laufe seiner hervorragenden Karriere viele Orden verliehen bekam. Er stammte aus einem Ort, der immun war gegen Siziliens »übertriebene Großspurigkeit«, seine stolze, trotzige Haltung gegen das offizielle Recht: Er war 1821 zur Welt gekommen, in einem Dorf im Norden Italiens, unweit der Stadt Savona an der ligurischen Küste.
    Im März des Jahres 1876 – er war gerade zum obersten Richter in Sizilien befördert worden – wurde Morena von einer Parlamentskommission über den Zustand von Recht und Ordnung in der Provinz Palermo befragt. Seine Antworten waren unverblümt, wie es einem Richter anstand, der Recht und Gesetz hochzuhalten gedachte. Sizilianische Richter seien schwach oder korrupt, sagte Morena; die Zeugen, ja selbst die Opfer, verschanzten sich hinter einer Mauer aus Schweigen, der Omertà; und die Gerichte würden schwere Verbrechen nur mit leichten Strafen ahnden, was die Autorität des Staates untergrabe.
    Doch als er zehn Monate später dem Präfekten Malusardi ein Antwortschreiben schickte, war Carlo Morena ein Mafioso. Er litt weder an »Zahnweh«, noch war er ein eingeschworenes Mitglied der kriminellen Vereinigung. Er war auch nicht unbedingt ein williger Helfer der Ganoven. Nichtsdestoweniger war er ein »Freund der Freunde«, wie man auf Sizilien sagt.
    Was genau die Mafia unternahm, um Morena 1876 auf ihre Seite zu ziehen, ist nicht bekannt. Er mag allen möglichen Drohungen ausgesetzt gewesen sein – Bestechung, Erpressung, politischem Druck. Wie bei den Großgrundbesitzern, die der Marchese di Rudinì als »Briganten« bezeichnete, oder bei Rudinì selbst sind diverse Szenarios denkbar. Doch wir können immerhin sicher sein, dass der Oberstaatsanwalt Morena für die Ehrenwerte Gesellschaft Siziliens tätig war. Um herauszufinden, warum, müssen wir uns viel, viel tiefer in die Welt der Mafia hineinbegeben – tiefer als es jemals möglich war, bis 2009 ein außergewöhnlich enthüllendes Dokument ans Licht kam. Dieses Dokument ist in der sauberen Handschrift des ersten richtigen Helden in der Geschichte des organisierten Verbrechens in Italien geschrieben worden, eines Mannes, dessen langen und ereignisreichen Werdegang wir von nun an verfolgen

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